Die Statue von einem Elefanten, einem Affen, einen Hasen und einer Taube, die übereinander und unter einem Baum stehen

Die vier einträchtigen Tiere

Es waren einmal eine Taube, ein Hase, ein Affe und ein Elefant, die lebten in Indien, im Land Dschagar, in einem wunderschönen Wald viele Jahre lang als Nachbarn miteinan­der. Eines Tages versammelten sich sich unter einem dichten, hohen Baum zum Schwatzen. Da sahen sie, dass in der Krone des Baumes köstliche, rote Früchte wuchsen.

Sie versuchten nun alles, um an die Früchte zu kommen. Die Taube flog hinauf und er­reichte die Früchte, konnte sie jedoch nicht pflücken. Der Affe kletterte hinauf, doch er erreichte die Früchte nicht.

Da wollte der Hase die Früchte holen, aber er wusste nicht, wie. Schließlich versuchte es der Elefant, doch so weit er auch seinen Rüssel ausstreckte, er konnte die Früchte nicht erreichen. Jeder sann darauf, wie er die Früchte bekommen und fressen könnte. Da kam dem Hasen ein kluger Einfall: „Wenn wir uns aufeinander stellen, können wir mit verein­ten Kräften an die Früchte kommen.“ Dem stimmten alle zu. Doch als sie daran gingen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, ergab sich eine Schwierigkeit: Sie konnten sich nicht ei­nig werden, wer sich auf wen stellen sollte. Jeder wollte ganz oben stehen, denn nur der Oberste würde die Früchte erreichen und fressen können. Schließlich einigten sei sich darauf, dass der älteste von ihnen ganz oben stehen sollte.

Um herauszufinden, wer denn der älteste sei, erzählte jeder eine Geschichte.

Zuerst erzählte der massige Elefant: „Als ich noch ein Kalb war, war dieser hohe Baum ganz winzig. Jeden Tag kam ich hierher und legte meinen Rüssel um seine Äste.“

Da rief der Affe: „Das ist noch gar nichts. Als ich klein war, hatte der Baum noch keine Äste, die groß genug waren, zum Spielen und Springen, und keine runden, roten Früchte Er warf nicht einmal genug Schatten, um mich vor der Sonne zu schützen.“

Da hüpfte der Hase vor und lachte: „Wenn ich mal was sagen darf: Als ich klein war, schlug der Baum gerade Wurzeln. Mit meiner Mutter grub sich sie aus, um daran zu knabbern.“

Da kam die Reihe an die Taube, die bisher geduldig da gesessen und den anderen zugehört hatte. Sie flog ein paar mal um den Baum herum und ließ sich dann neben ihnen nieder: „Hört mich an, meine kleinen Brüder! Gewiss kennt ihr diesen Wald seit Alters her. Doch ich erinnere mich noch, wie ich vor vielen Jahren mit meinem Schwarm von weit, weit her kam und den Samen dieses Baumes in meinem Schnabel herbei trug. Aus Versehen habe ich den Samen hier fallen gelassen. Von jener Zeit an kam ich jeden Morgen, um zuzuschauen, wie der Baum wuchs.“

Der Elefant, der Affe und der Hase hatten aufmerksam der Geschichte der Taube ge­lauscht und erkannten sie nun als Älteste an. Nun stellten sie sich auf, wie sie es vorher ausgemacht hatten. Ganz unten stand der Elefant, denn er war der Jüngste. Auf seinen Rücken kletterte der Affe, denn er war älter als der Elefant. Auf ihn stieg der Hase, denn er war älter als der Affe. Die Taube durfte sich ganz nach oben setzen, denn sie war die Älteste. So erreichten sie mit freundschaftlich vereinten Kräften die Früchte und konnten sie pflücken. Und die Taube fraß nicht alles alleine. Obgleich sie sich von den anderen als Älteste ehren ließ, beschloss sie, ihren geachteten und geliebten jüngeren Brüdern etwas abzugeben. So teilte sie die köstlichen roten Früchte gleichmäßig auf und gab jedem Tier seinen Anteil.

Von jenem Tag an lebten die vier Tiere als Freunde unter dem Baum, pflückten die leckersten von den reifen Früchten, teilten sie brüderlich und verspeisten sie.

„Die schönsten mongolischen Märchen – Die vier befreundeten Tiere und andere“, aus dem Mongolischen von Karl Rudolf Bittigau, Verlag Irmuun Multimedia GmbH Ulaanbaatar, 2007