Ein KI-generiertes Bild, das im Stil eines Bildes in einem Märchenbuch ein etwa siebenjähriges Mädchen zeigt, das mit einem Fuß auf einem Schlitten steht, vor den eine weiße Ziege gespannt ist. Unter dem rechten Arm trägt sie einen Hasen, in der linken Hand hält sie einen Spatz

Die Kluge

Es waren einmal zwei Brüder: Ein armer und ein reicher. Dem Reichen tat es leid, dass der Bruder nichts zu beißen und zu brechen hatte. Er gab ihm eine Milchkuh und sprach: „Nach und nach arbeitest du sie schon bei mir ab.“ Der arme Bruder arbeitete und arbeitete, doch als er es geschafft hatte, tat dem Reichen seine Milde leid, und er sagte: „Gib mir die Kuh wieder.“ Der Arme jammerte: „Bruder, ich habe doch dafür bei dir gearbeitet!“ – „Was hast du schon gearbeitet — das war ja für die Katz! Was ist eine Kuh dagegen! Gib sie nur wieder heraus!“
Dem Armen tat seine Arbeit leid, und er wollte die Kuh nicht hergeben. Da gingen sie beide zu ihrem Herrn mit ihrem Streit. Der Herr nun mochte sich wahrscheinlich nicht den Kopf zerbrechen, wer von ihnen im Recht und wer im Unrecht sei, und sprach: „Wer mir ein Rätsel löst, der kriegt die Kuh.“ – „Sagt es uns!“
„Hört zu: Was auf der Welt ist am fettesten von allem, was ist am schnellsten, und was ist am wertvollsten? Kommt morgen wieder und sagt es mir!“
Die Brüder gingen, und der Reiche kam nach Hause und dachte: ,Das ist Unsinn, aber kein Rätsel! Was könnte wohl fetter sein, als des Herrn Schweine; schneller, als des Herrn Windhunde und wertvoller sein als das Geld? Die Kuh ist mein!‘
Der Arme indessen ging heim, sann und sann und grübelte. Er hatte aber eine Tochter namens Mascha. Die fragte ihn: „Was grübelst du denn so, Väterchen? Hat der Herr etwas gesagt?“
„Ach, er hat ein Rätsel aufgegeben, über das man sich den Kopf zerbrechen kann.“
„Sag mir das Rätsel!“ – „Na, hör zu: Was auf der Welt ist am fettesten von allem, was ist am schnellsten und was ist am wertvollsten?“
„Ach, Väterchen, am fettesten ist die Erde, denn sie tränkt und ernährt uns und macht uns alle satt; am schnellsten ist der Gedanke, mit ihm kannst du fliegen, wohin du willst; am wertvollsten aber ist der Schlaf: Wie wohl dem Menschen auch sei, er lässt alles stehen und liegen, um zu schlafen.“
„Wirklich“, sagte der Vater, „mir scheint, du hast recht. So will ich es dem Herrn auch sagen.“
Am anderen Tage kamen die Brüder zum Herrn, und er fragte sie: „Nun, wie stebt’s, habt ihr es erraten?“ – „Na, wir glauben es!“, antworteten sie.
Der reiche Bruder trat aber schnell hervor, denn er wollte sich gleich hören lassen, und sprach: „Am fettesten, Herr, sind eure Schweine, am schnellsten sind eure Hunde, und am wertvollsten ist uns das Geld.“
„Ach — ach — ich glaube, das stimmt nicht!“, rief der Herr. „Nun, und was sagst du?“ – „Ei, was wird’s schon sein, Herr! Es gibt nichts Fetteres als die liebe Erde. Sie tränkt und ernährt uns und macht uns alle satt.“
„Wahr gesprochen!“, rief der Herr. „Was aber ist am schnellsten?“ – „Am schnellsten ist der Gedanke, mit dem kann man fliegen, wohin man will.“
„So ist es. Doch was ist am wertvollsten?“ – „Das Wertvollste ist der Schlaf. Wie wohl dem Menschen auch sei, er lässt alles stehen und liegen, um zu schlafen.“ – „Es ist, wie du gesagt hast“, sprach der Herr. „Die Kuh ist dein. Doch sage mir: hast du die Rätsel selber geraten, oder wer hat dir geholfen?“ – „Ach, ich habe eine Tochter, Mascha, die hat sie mir gesagt.“

Ist der Herr nun zufrieden?

Da wurde der Herr zornig: „Wie geht das zu! Ich bin ein kluger Kopf, und sie ist bloß ein einfaches Mädchen und löst trotzdem meine Rätsel! Warte! Hier hast du zehn gekochte Eier! Gib sie deiner Mascha, sie soll die Glucke darauf setzen, dass sie über Nacht ausgebrütet sind und sie die Küken aufziehen kann. Dann soll sie drei davon schlachten und braten, und du bringst sie mir zum Frühstück her. Ich warte darauf; und tut sie es nicht, geht’s ihr schlecht!“
Da ging der Alte heim und weinte. Als er zu Hause ankam, fragte die Tochter: „Was weinst du, Väterchen?“ – „Wie soll ich nicht weinen, meine Tochter! Der Herr hat mir zehn gekochte Eier gegeben und befohlen, dass du sie der Glucke unterlegst, damit sie die Küken in einer Nacht ausbrütet und aufzieht; und drei sollst du ihm zum Frühstück braten.“

Was wird Mascha tun?

Die Tochter nahm ein Töpfchen mit Hirsebrei und sprach: „Trag die Hirse, lieber Vater, zum Herrn, und sage ihm, er solle das Feld pflügen und die Hirse säen, damit sie wächst und blüht und er sie mähen, dreschen und schroten kann — dann will ich die Küken, die aus diesen Eiern kriechen, damit füttern und aufziehen.“
Der Bauer ging zum Herrn, gab ihm den Brei und richtete ihm alles aus, wie es ihm die Tochter aufgetragen hatte Der Herr beguckte sich die Hirse ganz genau und gab sie seinem Hund.

Ist der Herr nun zufrieden?

Dann nahm er einen Stängel Flachs, gab ihn dem Bauern und sprach: „Bring deiner Tochter diesen Flachs, sie soll ihn weichen, rösten, brechen und spinnen und daraus hundert Ellen Leinen weben. Tut sie es aber nicht, ergeht es ihr schlecht.“
Da ging der Bauer wieder heim und weinte bitterlich. Die Tochter kam ihm entgegen und fragte: „Was weinst du denn so, Väterchen?“ – „Ach, sieh dir das nur an: Der Herr schickt dir einen Stängel Flachs, den sollst du weichen, rösten, brechen und spinnen und hundert Ellen Leinen daraus weben.“

Was wird Mascha tun?

Mascha überlegte ein kleines Weilchen, dann nahm sie ein Messer, ging und schnitt ein Zweiglein vom Baum, gab es dem Vater und sprach: „Bring es dem Herrn, Väterchen: er soll mir daraus ein Spinnrad machen, dass ich den Flachs darauf spinnen kann.“
Der Bauer trug den Zweig zum Herrn und richtete ihm aus, was die Tochter gesagt hatte.

Ist der Herr nun zufrieden?

Der beguckte sich den Zweig von vorne und von hinten, warf ihn weg und dachte bei sich: „Die kriegst du nicht klein! Das ist eine ganz Schlaue!“
Dann überlegte er lange und sprach zum Bauern: „Geh und sage deiner Tochter, sie soll zu mir zu Gast kommen: weder ge­gangen, noch geritten, noch gefahren —ohne Schuhe, und doch nicht barfuß — ohne Gabe, und doch nicht ohne Gastgeschenk! Und wenn sie das nicht kann, ergeht es ihr schlecht!“
Der Vater ging wieder heim, weinte bitterlich und sprach zu seiner Tochter: „Ach, Mascha, was wird nun aus uns werden. Höre nur, was der Herr befoh­len hat.“ Und er erzählte ihr alles.

Was wird Mascha tun?

„Gräm dich nicht, Vater, es wird alles gut. Geh und kauf mir einen lebendigen Hasen.“
Der Vater ging und kaufte einen Hasen. Mascha aber fuhr mit einem Fuß in einen zerrissenen Latschen, den anderen ließ sie bloß. Dann fing sie einen Sperling, nahm den Schlitten und spannte die Ziege davor. Den Hasen nahm sie unter den Arm, den Spatzen in die Hand, stellte ein Bein in den Schlitten und hopste mit dem anderen den Weg entlang —so zog die Ziege das eine Bein, und das andere Bein ging. So kam sie auf den Herrenhof. Als der Herr sie erblickte, rief er seine Leute und schrie: „Jagt sie mit den Hunden fort!“ Die ließen die Hunde auf sie los; sie aber gab den Hasen frei, da jagten die Hunde den Hasen und taten ihr nichts. So trat sie ins Herrenhaus, verneigte sich und sprach: „Hier, Herr, ist Euer Gastgeschenk“, und gab ihm den Spatzen. Er wollte ihn gerade nehmen, da ließ sie den Vogel los und — schwirr! war er durchs Fenster davon.
Um dieselbe Zeit kamen zwei Bauern auf den Hof und baten um Rechtspruch. „Worum geht es, liebe Leute?“, fragte der Herr und wandte sich zu ihnen.
Der eine antwortete: „Seht, Herr, das war so: Wir schliefen beide über Nacht im Feld, und wie wir morgens aufwachen, da hat meine Stute ein Füllen zur Welt gebracht.“
Der andere aber rief: „Das ist nicht wahr, das war meine Stute! Entscheide du, Herr!“
Der Herr dachte nach und sprach: „Bringt mir das Fohlen und die Stuten her — zu welcher das Fohlen läuft, die hat es geworfen.“
Sie brachten die Stuten am Zügel und ließen das Fohlen frei. Jeder aber versuchte, es auf seine Seite zu scheuchen, und das Fohlen wusste gar nicht mehr, wohin es laufen sollte — lief und sprang, wer weiß wohin. Nun wusste keiner aus noch ein. Was tun, und wie entscheiden?
Mascha aber sprach: „Bindet das Fohlen an, und lasst die Stuten frei — diejenige, welche zum Fohlen läuft, hat es geworfen.“
So machten sie es, hielten das Füllen fest und ließen die Stuten los; da lief die eine zu ihm hin, während die andere stehenblieb. Jetzt sah der Herr: Die Tochter war so klug, dass man ihr nicht beikommen konnte, und er ließ sie in Frieden gehen.

Ukraine

„Die Wunderblume und andere Märchen“, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1956