Wie Shennong, der Göttliche Landmann, den Tee und seine Wirkung entdeckte



Tee, ob schwarz oder grün, ist in China zu allen Zeiten so wichtig gewesen, dass er nichts anderes sein konnte, als ein Gottesgeschenk. In der Morgendämmerung der Zeiten, so heißt es in China, traten die „Drei Erhabenen“ auf. Sie wiesen Menschen, Tieren und Pflanzen ihren Platz zu und zeigten den Menschen, wie sie leben konnten. Einer von ihnen ist Shennong, der „Göttliche Landmann“.
Einst beschloss Shennong die Krankheiten der Menschen zu heilen. Er kletterte auf hohe Berge und wagte sich in die steilsten Höhen, um Heilpflanzen und Kräuter zu finden. Er bereitete diese Kräuter selbst zu und erprobte ihre Wirkung am eigenen Leib. Ja, ein Gott kann so etwas tun, wir machen das nicht nach!
Eines Tages hatte Shennong einen großen Beutel Heilkräuter gesammelt. Unter einem Baum stellte er einen eisernen Kessel auf, goss Wasser aus einem Bach hinein und entzündete ein Feuer, um es zum Kochen zu bringen. Gerade als das Wasser zu sieden begann, öffnete Shennong den Deckel, wandte sich um und ging ein paar Schritte, um einige der Heilkräuter zu holen. In diesem Augenblick fielen von oben einige andere Blätter in seinen Topf. Plötzlich nahm Shennong einen lieblichen und zugleich würzigen Duft wahr, der sich um ihn herum entfaltete. Erstaunt ging er zum Topf, blickte hinein, und sah, dass lediglich ein paar Blätter auf dem Wasser trieben. Er beobachtete, wie sich das Wasser allmählich gelbgrün färbte und da-bei diesen wunderbaren Duft entwickelte. Mit einer Schale schöpfte er etwas heraus und kostete vorsichtig. Es schmeckte herb und bitter, hatte aber gleichzeitig einen zarten Geruch. Nach dem Trinken entfaltete sich im Mund ein feiner, süßlicher Nachgeschmack. Außerdem bemerkte er, dass er keinen Durst mehr hatte und dass seine Müdigkeit verflogen war. Sein Kopf und seine Gedanken wurden noch klarer und wacher als zuvor. Er fühlte sich ausgesprochen wohl und angeregt. Daraufhin fischte er die Blätter aus dem heißen Wasser und sah sie sich genau an. Shennong sah sich um, aber in der Nähe seines Topfes entdeckte er keinen Baum mit solchen Blättern: „Sicher hat der Himmelsgott an mich gedacht und mir diese jade-grünen Blätter geschenkt, um allen Lebewesen damit helfen zu können.“
Shennong suchte lange nach diesen jadegrünen Blättern und entdeckte schließlich einige wild wachsende Teesträucher in einem Talkessel. Ihre Blätter hatten die gleiche Form, wie jene, die in seinen Kessel gefallen waren. Der Aufguss hatte dieselbe gelbgrüne Farbe und auch ihr Geschmack glich dem anderen: „Es löscht ganz wunderbar den Durst und beflügelt den Geist.“ Darüber freute sich Shennong sehr und gab den Blättern den Namen „Tu“, was so viel wie „bitteres Kraut“ bedeutet.
Auch wenn die Gelehrten aller Länder zu allen Zeiten oft uneins waren, so zweifelte keiner je daran, dass es sich bei dem Tu-Kraut, das Shennong damals entdeckte, um den Tee handelt, den wir noch heute trinken.

Eine Teegeschichte aus China in der Erzählfassung von Bettina von Hanffstengel