Einleitung

Meine Liebe zu den Frauenmärchen begann mit einem Ärger. Ich fragte mich: „Warum sind die Märchenheldinnen so passiv und warten auf ihren Erlöser? Warum helfen sie sich nicht selbst?“ Ob sie nun Aschenputtel oder Schneewittchen heißen – letztendlich ist es der Prinz, der sie aus ihrer schwierigen Lage befreit. Und tatsächlich – in den Märchen der Brüder Grimm gibt es mehr Helden als Heldinnen und nur wenige von ihnen handeln selbstbestimmt.

Ich könnte natürlich versuchen die Märchen der Brüder Grimm und auch andere mit männlichen Helden frauenverwandelt zu erzählen.

Das ist nicht so einfach, denn in vielen Märchen mit männlichen Helden ist die Geschlechtsrolle wichtig oder es passt kukturell nicht.

Ich suche lieber nach Heldinnengeschichten in anderen Kulturen. Es gibt Märchen, die haben sich mir von selbst aufgedrängt, wie „Verbranntes Gesicht“, ein Märchen der First Nations in Nordamerika. Nach anderen Märchen habe ich lange gesucht, wie nach „Der Hirsch mit dem zwölfzackigen Geweih“ in dem ein Mädchen auszieht, ihr Glück zu suchen ohne nach einem Mann zu suchen.

Ich kann mich in die Lebens- und Gefühlswelt von Frauen besser einfühlen

Ich kann mich mit einer Heldin viel leichter identifizieren als mit einem Helden, denn ich habe einen Großteil meines Lebens unter Frauen und Mädchen verbracht:

  1. Ich war ab der 4. Klasse in der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg, die damals, in den 70er und Anfang der 80er Jahre eine reine Mädchenschule war.
  2. Meine offiziellen Berufe, Erzieherin und Diplom-Sozialpädagogin, sind klassische Frauenberufe.
  3. Ich bin seit etwa 30 Jahren in meinem Selbsthilfeverein aktiv, in dem es vor allem um Mädchen und Frauen geht. Fünf von den acht Mitgliedern des Orgateams für das Jahrestreffen sind Sozialberuflerinnen.

Deshalb kenne ich die Herausforderungen im Leben von Mädchen und Frauen besser als die von Männern.

Ich liebe es mein Publikum direkt anzusprechen, in dem mehr Frauen als Männer sitzen

Das liegt vielleicht am Thema „Märchen“, das Frauen mehr zu interessieren scheint als Männer.

Weil es mehr Frauen im Publikum gibt als Männer, erzähle ich gerne vor allem Frauengeschichten, damit Frauen sich in der Welt der Geschichten wiederfinden können und mit vielen, schönen Geschichten nach Hause gehen, die sie inspirieren, bestärken und ermächtigen, indem sie ihnen neue Perspektiven auf ein Thema eröffnen.

Ich liebe das Erzählen von Frauengeschichten, weil ich es liebe zu recherchieren

Es tut mir jedes Mal gut, in meinen Büchern (Ordnern, Zeitschriften) zu versinken und nach Märchen zu einem bestimmten Thema zu suchen. Ich freue mich an den schönen Märchen, die ich dabei so ganz nebenbei entdecke und selbstverständlich alle lesen muss, weil ich sie vielleicht ein anderes Mal gut gebrauchen kann. Es wird wohl noch Jahre dauern, bis ich alle Märchen, die ich in Büchern, Zeitschriften, Ordnern oder in Dateien auf meinen PC habe, auf Obsidian verzettelt haben werde! Wie das Verzetteln auf Obsidian funktioniert, habe ich in meinem Monatsrückblick August 2024 genauer beschrieben.

Ich liebe die vielen schönen Märchen, die Frauen oder Mädchen als Heldinnen haben

Märchen, die Frauen als Heldinnen haben, sind Märchen, die eine Geschichte aus der Perspektive von Mädchen oder Frauen erzählen oder in denen Mädchen oder Frauen die Handlung vorantreiben, selbst wenn die Hauptperson ein Mann ist.

Solche Märchen gibt es auch in der Sammlung der Märchen der Brüder Grimm. In dem Märchen „Frau Holle“ ist das einzige männliche Lebewesen der Hahn. In „Die Nixe im Teich“ dreht sich die Handlung um den Sohn des Müllers, dessen Schicksal von der Nixe, seiner Ehefrau und einer weisen Frau bestimmt wird.

Was für ein Glück, dass aus anderen Ländern viele Märchen überliefert sind, in denen es vor mutigen, gewitzten und klugen Mädchen und Frauen nur so wimmelt!

In dem usbekischen Märchen „Tanze, mein Hündlein, tanze!“ wird der Vater von drei Töchtern schwer krank. Das einzige Heilmittel ist ein Tee, gekocht aus den Zweigen des Almurutbaumes, der in der Nähe der Stadt Sim-Sim wächst.
Die zwei älteren Töchter machen sich vergeblich auf den Weg nach der Stadt Sim-Sim, um die Almrut-Zweige zu erlangen und damit ihren todkranken Vater zu heilen. Sie fürchten sich vor den wilden Tieren der Wüste und kehren wieder um. Die jüngste Tochter reitet, begleitet von ihrem kleinen Hund in Männerkleidung und dem Schwert ihres Vaters nach Sim-Sim und tötet die Tiere, die sie bedrohen. Die jungen Burschen nehmen den fremden Jüngling gastfreundlich auf, aber sie zweifeln daran, dass der Fremde ein Mann ist. Dreimal stellen sie das Mädchen auf die Probe. Aber mit der Hilfe ihres Hundes besteht sie die Proben, erringt die Almurut-Zweige und reitet, ein Triumphlied singend, nach Hause zurück. Dort kocht sie einen Tee aus den Zweigen des Almurut-Baumes und der Vater wird wieder gesund.

In dem französischen Märchen „Die Brennnessel-Spinnerin“ möchte die Spinnerin Renelde heiraten, aber der Gutsherr erlaubt es ihr nur dann, wenn sie aus Brennnesseln zwei Hemden webt, ihr Hochzeits- und sein Totenhemd. Sie lernt die Brennnesseln zu verarbeiten und webt zuerst ihr Hochzeitshemd. Der Graf gibt nicht nach. Aber als sie mit dem Spinnen der Brennnesseln für sein Hemd beginnt, wird er todkrank. Er will sie töten, aber es gelingt ihm nicht und er stirbt. So kann Renelde heiraten.

In dem russischen Märchen „Russischer Winter“ lebt die Witwe Varenka allein in den weiten Wäldern Russlands. Als ein Krieg kommt, hält sie stand, gewährt anderen Menschen Zuflucht und betet vor ihrer Ikone: „Bitte, lieber Gott, bau eine Mauer um mein Haus, damit die Soldaten es nicht sehen!“
Tatsächlich – in der Nacht bevor die Soldaten kommen, schneit es so heftig, dass das kleine Haus im Schnee versinkt. Die Soldaten sehen es nicht und ziehen vorrüber.

In dem bosnischen Märchen „Von der Großmutter, die in den Wald ging, um Beeren zu pflücken“ trifft der Wolf die Großmutter im Wald und will sie fressen. Die Großmutter rettet sich, indem sie dem Wolf ihre drei Söhne Weich, Hart und Niemals verspricht, die er sich am Abend holen soll. Als der Wolf am Abend kommt und an die Tür klopft, um sich die Söhne zu holen, macht die Großmutter nicht auf: „Weich ist das Bett, in das ich mich hineinlege!“ Auch den Hart gibt sie nicht heraus: „Hart ist das Schloss an meiner Tür, die fest verriegelt ist!“ Auch Niemals kommt nicht heraus: „Niemals mehr geht die Großmutter allein in den Wald um Beeren zu pflücken!“
So muss der Wolf unverrichteter Dinge hungrig in den Wald zurückkehren.

Ich liebe es, verborgene Geschichten von Mädchen und Frauen sichtbar zu machen

Bei vielen Märchenthemen, wie bspw. dem Thema „Schlau und gerissen“ scheint es, oberflächlich betrachtet, nur Helden zu geben. Von vielen kennen wir sogar die Namen: Nasreddin Hodscha, Till Eulenspiegel oder Eppelein von Gailingen. Alle drei haben einen wachen, kreativen Geist. Gibt es nur Männer mit einem kreativen, wachen Geist? Gibt es gar keine schlauen und gerissenen Mädchen und Frauen in Märchen?

Ja, die gibt es. Leider haben die Heldinnen, wie es im Märchen üblich ist, meistens keinen Namen. Die weibliche Perspektive wird oft übersehen oder auch selten erzählt. Das ukrainische Märchen „Die Kluge“ erzählt von einem Mädchen mit einem kreativen, wachen Geist, so dass sich Mädchen in ihr wiederfinden können.

Ich liebe es durch Frauenmärchen Lebensthemen von Frauen zu erzählen

Ein ganz wichtiges Thema ist der „unerfüllte Kinderwunsch“. Auch ich kann keine Kinder bekommen. Jahrelang hatte ich das Gefühl damit alleine zu sein und dachte, es sei ein modernes Problem. Weit gefehlt! Da gibt es ganz viele Märchen, ob es nun „Dornröschen“, „König Lindwurm“ oder „Scharita aus dem Walnussbaum“ ist, jedes Mal sehnt sich ein königliches Paar nach einem Kind und jedes Paar findet eine eigene Lösung.
Bei Dornröschen muss die Königin lange auf ein Kind warten. Die Mutter von König Lindwurm soll entweder eine weiße oder eine rote Rose essen, die über Nacht in ihrem Garten gewachsen ist. Die rote Rose schmeckt ihr so gut, dass sie auch die weiße isst. Und nun bekommt sie anstelle eines Kindes einen Lindwurm… Ein Walnussbaum wirft der Mutter eine Nuss in den Schoß, indem ein kleines Mädchen steckt, das heranwächst und zu einem Mädchen in menschlicher Größe wird.

Märchen für Frauen machen Frauen selbstbewusster – auch mich!

Für meine Workshops für Mädchen und Frauen suche ich jeweils die passenden Märchen zum Thema heraus. Bisher habe ich jedes Mal mindestens drei passende Märchen gefunden.

Ich glaube, dass jedes Mädchen einmal in ihrem Leben das Märchen der First Nations in Nordamerika „Gebogener Pfeil“ gehört haben sollte, um zu begreifen, dass sie nicht egoistisch ist, wenn sie ihr Leben selbst bestimmt führen will.

In diesem Märchen werden viele Menschen eines Dorfes krank und sterben. Der Häuptling behauptet, dass eine Heirat mit dem Mädchen „Gebogener Pfeil“ die bösen Krankheitsgeister vertreiben würde. Aber Gebogener Pfeil flieht mit dem Kanu über das Wasser des Niagara-Flusses. Das Kanua kentert und sie wird in eine Höhle unter dem Niagarafall gezogen. Dort lebt ein Wassergeist, der ihr erklärt woher die Krankheit kommt und wie man sie mir Kräutern heilen kann. Die Hochzeit mit dem Häuptling hätte nur ihm etwas genutzt, nicht aber den Menschen des Dorfes. Gebogener Pfeil lernt die Kräuterheilkunde vom Wassergeist, um den Menschen in ihrem Dorf helfen zu können.

Die Heldin des Märchens folgt ihrem Herzen, bleibt sich selbst treu und auch den Menschen in ihrem Dorf. Sie weigert sich, sich für das scheinbare Wohlergehen des Dorfes aufzuopfern und ist bereit da zu helfen, wo es sinnvoll ist. Sie handelt frei von Rollenvorstellungen und lässt sie auf ihrer Flucht vor der Heirat mit dem Häuptling Ohne Herz hinter sich. Unbeirrt, selbstsicher und konsequent verfolgt sie ihre Ziele, die nicht nur ihr selbst, sondern auch ihrem Dorf dienen.

Ich selbst habe oft geglaubt, dass ich egoistisch handle, wenn ich meinem Herzen folge. Dieses Märchen zeigt, dass es nicht stimmt.