Messingfigur einer Leserin, im Hintergrund Maerchenbuecher

Jedes mal, wirklich jedes mal, wenn ich mit diesem Satz angekündigt werde, ärgere ich mich, denn es ist ein Unterschied ob ich ein Märchen vorlese oder erzähle.
Ich streite gar nicht ab, dass es geniale Vorleserinnen und Vorleser gibt. Nur: Ich gehöre nicht dazu.
Die Märchenerfinderin und -erzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener (1878 – 1963) hat 1956 ihrer Empörung schriftlich gegenüber einem Veranstalter mit folgenden Worten Luft gemacht:

„Eine „Lesung“ verlangen Sie von mir! Von mir – eine Lesung! Tut nichts – kann ich nicht – tue ich nicht. Dann müssen Sie aus einem Ihrer Bücher vorlesen – ganz allein – ist auch billiger, denn Sie hatten mir DM 300 zugesagt, Hälfte für Vortrag, Hälfte für Spesen.“

Welche Klarheit! Welche Prägnanz! Welche Kraft! Welches Selbstbewusstsein!
Ähnliches würde ich manchmal auch gerne sagen. Aber meistens bleibe ich höflich und sage –  heimlich mit den Zähnen knirschend – aber möglichst freundlich: „Ich lese nicht, ich erzähle frei!“
Was ist der Unterschied? Wenn ich ein Märchen erzähle, löse ich mich vom Text und tauche in die Bilderwelt der Märchen ein. Wenn ich erzähle, sehe ich das Schloss, höre die Trommel, rieche das frisch gebackene Brot, schmecke den Honig auf meiner Zunge und spüre den Wind auf meiner Haut.
Je besser ich diese Sinneseindrücke beim Erzählen abrufen kann, desto klarer empfangen sie die Zuhörenden, ohne große Erklärungen oder Beschreibungen.
Es soll sogar Erzähler gegeben haben, die brauchten nur von einem Gewitter zu erzählen und schon fing es an zu donnern zu blitzen.
Diese Magie entfaltet sich nur beim Erzählen, nicht aber beim Vorlesen.