Mondfinsternis

Der Mond und das Waisenkind

Ein Waisenknabe wohnte bei einem reichen Rentierzüchter. Er musste die Rentiere hüten und das Brennholz spalten. Der Waisenknabe hatte ein schweres Leben. Er wurde schlecht behandelt und musste oft Hunger leiden.

Eines Nachts sagte ihm der Reiche: „Heute scheint der Mond. Da kannst du die Rentiere hüten, aber pass auf, dass sie nicht von den Wölfen gerissen werden.“

Weinend ging das Waisenkind los, bis es einen Kegelberg erreichte. Schluchzend sah das Kind den Mond an. Der aber war in weiter Ferne. Der Junge setzte sich auf einen Baumstumpf und rührte sich nicht von der Stelle. Plötzlich schien ihm, dass der Mond auf ihn zu kam. Jetzt war es gar nicht mehr so weit bis zum Mond. Mit großen Augen sah das Kind auf den Mond. Der Mond trat an ihn heran und fragte: „Warum weinst du?“

„Ich habe weder Vater noch Mutter, werde schlecht behandelt, bekomme verschlissene Kleider und wenig zu essen.“

Da sagte der Mond: „Ich will dich mitnehmen. Du wirst bei mir wohnen und sollst es gut haben.“ Der Mond nahm den Kleinen mit.

Der Reiche suchte den Waisenknaben, aber er konnte ihn nirgends finden. Der Knabe kehrte nicht mehr zurück. Eines Tages kam der Mond zu dem reichen Rentierzüchter. Er stellte sich vor ihn hin und sprach: „Du hast das Kind, das weder Vater noch Mutter hat, übel behandelt. Das war schlecht getan. Ich hatte Mitleid mit dem kleinen Jungen und habe ihn zu mir genommen. Jetzt wird er immer bei mir bleiben. Alle Völker werden ihn sehen und du auch. Er steht und hält seine Fäustlinge in der Hand. Weil du aber den kleinen Waisenknaben so schlecht behandelt hast, werden die Wölfe alle deine Rentiere fressen.“

So geschah es auch – die Rentiere der Reichen wurden von den Wölfen gefressen.

Dem Waisenknaben aber geht es sehr gut beim Mond. Alle Völker sehen ihn dort. Er ist gut zu erkennen, wie er dasteht und seine Fäustlinge in der Hand hält. Er ist der Gehilfe der Mondes. Ich sehe ihn auch. Hast du ihn auch schon einmal gesehen?

Ewenken

„Das Buch aus reinem Silber- Eine russische Märchenreise vom Amur bis zur Wolga“, gesammelt und herausgegeben von Prof. Viktor Gazak, Lizenzausgabe des Bastei Lübbe Verlags 1989