Fliege in Schmetterlingsform

Gerade genug

Es war einmal ein Sohn eines Schneiders, der hieß Joseph. Er arbeitete neben sei­nem Vater in dessen kleinem Laden. Sie schnitten Kleidung und nähten sie für die reichen Leute der Stadt.

Als er heran wuchs, träumte Joseph davon, sich selbst etwas ganz Besonderes zu nä­hen. Er stellte sich einen warmen Mantel aus schönem bunten Stoff vor. Viele Jahre lange sparte er die paar Münzen, die er von seinem Vater bekam. Endlich hatte er genug Geld zusammen.

Joseph ging zum Markt und kaufte ein Stück Stoff, das genauso aussah, wie er es er­träumt hatte. Es war ein warmes grau-braun mit etwas Gold und Silber und hier und da sogar ein bisschen Rot. In der Nacht, als sein Vater schlief, ging Joseph in den kleinen Laden. Er legte den Stoff aus und machte einen Plan. Er nahm Maß, er schnitt den Stoff zu, er nähte. Nach etlichen Nächten, hatte der junge Mann sich ei­nen feinen Mantel genäht. Als der Schneider sah, was sein Sohn genäht hatte, war er sehr stolz. „Du bist jetzt ein ausgebildeter Schneider. Du hast gute Arbeit getan, ich bin sehr stolz.“

Joseph liebte seinen Mantel. Der Mantel war warm und bunt. Er trug den Mantel überall hin. Und die Jahreszeiten zogen vorbei.

Eines Tages als Joseph auf dem Markt war, um Stoff für seinen Vater zu kaufen, fing es an zu regnen. Joseph sah eine junge Frau. Sie zitterte, denn sie war nur dünn bekleidet. Die Frau war ungefähr so alt wie Joseph. Er nahm seinen Mantel ab und bot ihr an: „Du kannst den Mantel bis nach Hause tragen.“ Joseph ging mit ihr bis zu ihrem Haus. Sie lernten einander näher kennen und innerhalb von zwei Jahren waren Joseph und Anna verheiratet.

Joseph eröffnete seinen eigenen Schneiderladen im Keller ihres kleinen Hau­ses. Joseph trug weiterhin seinen Mantel. Er trug ihn und er trug ihn, bis der Mantel an einigen Stellen ganz dünn wurde. Eines Tages zog er den Mantel an und sagte traurig: „Anna, dieser Mantel bedeutet mir so viel. Der Mantel war ein Traum, der wahr geworden ist. Er hat meinen Vater stolz gemacht, und er hat uns beide zusammen gebracht. Und jetzt ist nichts mehr übrig. Nichts.“

Aber Anna ging einmal um Joseph herum und betrachtete den Mantel genau: „Doch, da ist noch etwas übrig. Gerade genug für eine Jacke!“ Und statt den Mantel weg zu werfen, setzte sich Joseph an seine Werkbank und nahm Maß, schnitt zu und nähte. Am Morgen hatte er eine Jacke fertig.

Er liebte seine Jacke. Er trug sie überall. Bald brachte seine Frau Zwillinge zur Welt, zwei wunderschöne kleine Mädchen. Als die Mädchen etwa ein Jahr alt waren, sah Joseph nachts aus dem Fenster und sah den ersten Schnee des Winters fallen. „Kommt meine Mädchen!“ Er hob seine Mädchen hoch, steckte sie unter die Jacke und knöpfte die Jacke um sie herum zu. „Wir gehen jetzt den ersten Schnee des Winters schmecken!“ Die Mädchen lachten vor Vergnügen, als die Schneeflocken auf ihre kleinen Nasen und Zungen fielen und schmol­zen. Joseph tanzte fröhlich im Kreis und hielt seine zwei kleinen Schätze mit seiner Jacke warm.

Er trug die Jacke jahrelang. Er trug sie und trug sie, bis Anna bemerkte, dass sie an einigen Stellen schon ganz dünn war. Joseph hielt die Jacke hoch: „Alte Jacke, du hast mir so viel bedeutet. Ich werde nie vergessen, wie ich mit den Zwillingen im ersten Schnee getanzt habe. Aber jetzt ist nichts mehr übrig. Nichts.“

Aber Anna sah die Jacke genau an und entgegnete: „Da ist doch noch etwas. Gerade genug für eine Mütze!“ Und statt die Jacke in den Müll zu schmeißen, setzte sich Joseph an seine Werk­bank und er nahm Maß. Er schnitt zu und er nähte. Am Mor­gen hielt er eine fertige Mütze in den Händen. Es war eine sehr schöne Mütze. Sie hatte einen klei­nen Schirm und war gefüttert, damit er im Winter seinen Kopf warm halten konnte. Er liebte seine Mütze. Er trug sie überall hin.

Als seine Töchter etwa 13 Jahre alt waren, herrschte gerade große Hungersnot im Land. Die Ernte war karg und sogar die Reichen ließen sich keine Kleidung schnei­dern. Die Familie des Schneiders hatte nicht viel zu essen, nur ein paar Kartoffeln und Möhren aus dem Garten. Und manchmal ein bisschen Kohl, aber nie etwas Sü­ßes. Eines Tages ging die Familie in den Wald um Holz zu sammeln.

Auf einmal rief Anna: „Seht einmal hier! Es gibt hier Beeren, ganz viele Beeren!“ Der Schneider und seine Familie aßen so viele Beeren, wie sie nur essen konnten. Es wa­ren aber immer noch Beeren übrig. Da sagte Anna: „Ach, wenn wir nur etwas hätten, worin wir die Beeren nach Hause tragen könnten, dann würde ich daraus einen Kuchen backen!“ Und was nahmen sie um die Beeren zu transportieren? Josephs Mütze! Die Mütze quoll schon fast über, so voll war sie mit Beeren. Die Beeren hinterließen ei­nen dunklen Fleck auf der Mütze, aber der leckere Kuchen war es wert!

Joseph trug seine Mütze jahrelang. Bis Anna eines Tages feststellte, dass sie sehr ab­getragen war. „Ach, alte Mütze, du hast mir so viel bedeutet, aber jetzt ist nichts üb­rig. Nichts!“ Doch Anna lachte: „Doch, da ist noch etwas. Gerade genug für eine Flie­ge!“ Und statt die Mütze weg zu werfen, setzte sich Joseph an seine Werkbank und er nahm Maß; er schnitt zu und er nähte. Und er nähte daraus eine Fliege.

Er trug seine Fliege überall hin. Er trug sie zu den Hochzeiten seiner Töchter und den Ge­burten seiner Enkelkinder. Als sein ältester Enkelsohn sprechen konnte, rief er: „Großvater, du hast ja einen Schmetterling auf deinem Hemd!“ Ab da nahm Joseph jedes Mal seine Fliege ab, wenn er mit seinen Enkelkindern spielte und tat so, als ob seine Fliege ein Schmetterling wäre.

Eines Tages als Josephs Haare schon grau waren, kam er vom Markt und zog sei­nen Mantel aus. Anna fragte: „Joseph, wo ist denn deine Fliege?“ Er fühlte am Hals nach, aber die Fliege war weg. „Oh, nein, ich muss sie unterwegs verloren haben!“ Und so schnell seine alten Beine ihn tragen konnten, lief er zum Markt zurück und ging noch einmal den Weg nach, den er gegangen war. Er fragte an jedem Marktstand nach. Aber obwohl sich alle an seine Fliege erinnern konnten, wusste keiner wo sie sein könnte. Joseph kehrte heim: „Anna, ich muss meine Fliege fin­den!“ Und er ging noch einmal den Weg nach.

Erst spät in der Nacht gelang es Anna Joseph nach Hause zu bringen. Er ging ohne etwas zu essen ins Bett. Am nächsten Morgen weigerte er sich aufzustehen. „Warum soll ich aufstehen? Der Stoff, den ich so geliebt habe ist weg. Jetzt ist nichts übrig. Nichts. Ich habe so viel mit diesem Stoff erlebt. Es ist als hätte ich ei­nen sehr guten, lieben Freund verloren.“ Joseph hörte nicht, wie seine Frau leise lachte.

Anna ging zu den Häusern ihrer Töchter. „Bringt eure Kinder.“ Sie kamen alle und setzten sich auf Josephs Bett. „Ich kann heute nicht mit euch spielen. Ich bin zu traurig. Ich habe meine Fliege verloren. Ich habe so viele schöne Erinnerungen verloren.“

Erzähle uns von dem Stoff, Vater. Deine Enkel kennen nicht alle Geschichten.“ „Oh, es ist aber alles so traurig.“ – „ Bitte, bitte, Großvater!“

Also gut.“ Joseph erzählte, wie er den Mantel genäht hatte, wie stolz sein Va­ter gewesen war. Und er erzählte, wie er den Mantel um die Schultern einer jungen Frau gelegt und dadurch Anna kennen gelernt hatte. Er erzählte wie er in der Jacke mit den Zwillingen getanzt hatte. Und er erzählte von den Beeren. Wie er die Geschichten erzählte, rannen die Tränen seine Wangen her­unter. Und er erzählte weiter. Er erzählte, wie er die Fliege zu den Hochzeiten sei­ner Töchter getragen hatte, und zu den Geburten seiner Enkelkinder.

Da rief der ältester Enkelsohn: „Du hast aus deiner Fliege einen Schmetterling ge­macht, Großvater, vielleicht ist der Schmetterling ja weg geflogen!“ „Ja! Wahr­schein­lich ist der Schmetterling weg geflogen. Und ihr habt mir geholfen, zu sehen, dass die Erinnerungen, die mir so lieb sind, nicht weg geflogen sind. Es waren gerade genug Erinnerungen, um daraus eine Geschichte zu machen. Und die Geschichte wird nie verloren gehen, wenn ihr mir helft, sie zu behalten!“ Joseph umarmte seine Familie und stieg aus dem Bett.

Seine Geschichte wurde in vielen nachfolgenden Generationen erzählt, denn sonst hätte ich sie euch ja auch nicht erzählen können.

Russland

Erzählt von Bettina von Hanffstengel