Die goldene Schale

In alten fernen Zeiten, so erzählt man sich, lebte Khan Sanad. Eines Tages beschloss er, mit seinem Volk ein anderes Land zu ziehen, wo die Gegend freundlicher war zum Leben und die Weideplätze größer waren. Doch der Weg dorthin war weit und beschwerlich. 


Unmittelbar vor dem Aufbruch gebot der Khan: „Tötet alle Greise! Die Greise werden uns unterwegs behindern! Darum wollen wir keinen einzigen alter Menschen mit uns nehmen. Kein alter Mensch darf am Leben bleiben! Wer dieses Gebot nicht befolgt, wird hart bestraft werden!“ So schwer es die Menschen auch ankam, sie mussten dem grausamen Gebot des Khans Folge leisten. Alle fürchteten ihren Gebieter und keiner hatte jemals gewagt, ihm den Gehorsam zu verweigern.
Nur ein einziger Untertan Khan Sanads, der Jüngling Zyren, tötete seinen alten Vater nicht. Sie vereinbarten miteinander, dass Zyren den Vater in einem großen Ledersack verstecken würde und ihn heimlich, ohne Wissen des Khans und aller Untertanen in die neue Heimat mitnehmen würde. Dann mochte kommen was wollte…


Khan Sanad machte sich also auf mit seinem Volk und mit den Viehherden. Sie zogen nordwärts in ferne Lande. Mit ihnen zog auch Zyrens alter Vater. Wohl versteckt saß er in einem großen Ledersack, auf den Rücken eines Lasttiers geschnallt. Heimlich gab Zyren dem Vater zu essen und zu trinken. Wenn sie rasteten, knüpfte er in tiefster Finsternis den Sack auf und ließ den alten Mann heraus, so dass er sich verschnaufen und die erstarrten Hände und Füße bewegen konnte. So zogen sie lange dahin und kamen an ein großes Meer.


Hier gebot Khan Sanad das Nachtlager aufzuschlagen. Ein Vertrauter des Khans schlenderte an die Küste und bemerkte auf dem Meeresgrund einen funkelnden Gegenstand. Als er genauer hinsah, erkannte er eine große goldene Schale von herrlicher Form. Der Höfling eilte zum Khan und berichtete ihm: „Unmittelbar vor uns auf dem Meeresgrund liegt eine wertvolle Schale.“ Ohne lange zu überlegen, gebot Khan Sanad: „Bringt mir diese Schale!“


Doch keiner wollte freiwillig bis auf den Meeresgrund tauchen. Darauf ließ der Khan durch das Los entscheiden, wer nach der Schale tauchen sollte. Das Schicksal ereilte einen Vertrauten des Khans. Er tauchte, kehrte jedoch nicht zurück. Das Los traf einen anderen. Er stürzte sich vom hohen Steilufer hinab und verschwand auf ewige Zeiten im Meer. So fanden viele Leute von Khan Sanad auf dem Meeresgrund den Tod. Doch der erbarmungslose Khan dachte nicht daran, die goldene Schale aufzugeben. Auf sein Gebot tauchte ein Gefolgsmann nach dem anderen auf den Meeresgrund und fand dort den sicheren Tod.

Endlich kam die Reihe zum Tauchen auch an den jungen Zyren. Er ging zu dem Ort, wo er seinen Vater verborgen hatte, um Abschied zu nehmen: „Vater, leb wohl! Wir gehen gemeinsam in den Tod.“ – „Was ist geschehen? Weshalb musst du den Tod erleiden?“ – „Vater, auf mich ist das Los gefallen, auf den Grund des Meeres zu tauchen, um die goldene Schale zu heben. Von dort ist bisher noch keiner zurückgekehrt. Darum werde ich auf das Gebot des Khans den Tod im Meer erleiden, dich aber werden die Diener des Khans finden und umbringen.“ – „Zyren, ihr werdet noch alle im Meer ertrinken, doch die goldene Schale wird keiner finden! Diese Schale liegt ja nicht auf dem Meeresgrund! Siehst du dort jenen Berg, der am Meer aufragt? Auf dem Gipfel dieses Berges steht die goldene Schale. Was ihr für die Schale haltet, ist nur ihr Spiegelbild. Habt ihr das nicht bemerkt?“ – „Vater, was soll ich tun?“ – „Besteige jenen Berg, hole die Schale und bringe sie dem Khan. Sie ist nicht schwer aufzufinden. An ihrem Leuchten wirst du sie schon von Weitem erkennen. Wenn die Schale jedoch auf einem so wilden Felsen steht, dass du ihn nicht besteigen kannst, befolge meinen Rat: Warte ab, bis die Rehe kommen und erschrecke sie. Sie werden flüchten und gegen die Schale stoßen. Dann verliere keine Zeit, fange sie auf, sonst fällt sie am Ende in eine tiefe dunkle Schlucht!“


Zyren stieg sogleich auf jenen Berg. Es war kein leichtes Unterfangen, den Gipfel zu erreichen. Der Jüngling klammerte sich am Strauchwerk fest, an Bäumen und kantigen Steinen, er kratzte sich Gesicht und Hände blutig und zerriss sich die Kleider. Endlich hatte er fast den Gipfel erreicht und sah auf dem hohen Fels eine schöne goldene Schale glänzen. Zyren merkte, dass er diesen Felsen niemals bezwingen könnte. Darum befolgte er den Rat seines Vaters und wartete, bis die Rehe erschienen. Er brauchte nicht lange zu warten. Ehe er es sich versah, standen auf dem Felsen ein paar Rehe. Sie standen reglos da und starrten in die Tiefe. Da brüllte Zyren aus Leibeskräften. Die Rehe sprangen erschreckt auf dem Felsen hin und her und stießen die goldene Schale an.

Munter und zufrieden kletterte er mit der Schale im Arm den Berg hinab, begab sich zu Khan Sanad und stellte die Schale vor ihm hin.
„Wie hast du diese Schale vom Meeresgrund geborgen?“, fragte der Khan. – „Ich habe sie nicht vom Meeresgrund geborgen. Ich habe sie vom Gipfel jenes Berges dort gebracht. Im Meer war nur das Spiegelbild dieser Schale zu sehen.“ – „Wer hat dir das gesagt?“ – „Ich habe es selbst erraten.“ Der Khan stellte dem Jüngling keine Fragen mehr und entließ ihn gnädig. Anderntags setzte Khan Sanad mit seinem Volk den Weg fort. Lange zogen sie durch die Fremde und gelangten in eine endlose Wüste.

Unbarmherzig glühte die Sonne auf die Erde und hatte das Gras verbrannt. Doch so weit das Auge reichte, war kein Fluss, ja nicht einmal ein schmales Bächlein zu sehen. Menschen und Tiere aber plagte der Durst. Die Boten des Khans ritten auf der Suche nach dem Wasser in alle Richtungen, stießen jedoch auf keine Quelle – überall breitete sich endlos die ausgedörrte verbrannte Erde aus. Die Menschen erschraken und verzweifelten.
Sie wussten sich keinen Rat. Zyren schlich sich heimlich zu seinem Vater und fragte den Greis: „Vater, sag, was sollen wir tun? Unser Volk und unser Vieh verdursten!“
„Lasst uns eine dreijährige Kuh frei und folgt ihr. Wo sie stehen bleibt und im Sand schnüffelt, hebt einen Brunnen aus.“

Zyren ging und ließ eine dreijährige Kuh frei. Den Kopf gesenkt, trottete sie umher. Plötzlich blieb sie stehen und begann im heißen Sand zu schnüffeln. „Hier wollen wir graben!“ gebot Zyren.
Die Menschen begannen zu graben und stießen bald auf eine unterirdische Quelle. Kalt und rein sprudelte das Wasser. Alle löschten ihren Durst und erfrischten sich. Khan Sanad ließ Zyren zu sich rufen und fragte: „Wie hast du in dieser Sandwüste die unterirdische Quelle zu finden vermocht?“ – „Ich habe die Zeichen bemerkt…“, antwortete Zyren. Die Menschen labten sich, verschnauften und zogen weiter.


Viele Tage vergingen. Als sie wieder einmal ihr Lager aufschlugen, um zu rasten, ging nachts ein starker Regenguss nieder und löschte die Feuer in allen Feuerstellen aus. Wie sehr die Menschen sich auch mühten, es gelang ihnen nicht, aufs neue ein Feuer anzuzünden. Zitternd vor Kälte und bis auf die Haut durchnässt, wussten sie nicht, was sie machen sollten. Endlich bemerkte jemand auf dem Gipfel eines fernen Berges einen Feuerschein.
Khan Sanad befahl zu diesem Berg zu ziehen und das Feuer zu bringen. 


Die Menschen schickten sich an, den Auftrag des Khans auszuführen. Ein Mann zog aus, ihm folgte ein zweiter, und schließlich machte sich ein dritter auf zu jenem Berg. Alle gelangten zu der Feuerstelle unter einer dichten Tanne. Dort saß ein Jägersmann und wärmte sich. Jeder nahm ein schwelendes Holzscheit aus der Glut, doch keiner brachte es wohlbehalten zum Rastplatz, denn der Regen löschte das Scheit mitleidlos. Das erzürnte Khan Sanad, und er gebot: „Es sollen alle hingerichtet werden, die nach dem Feuer ausziehen und es nicht herbeischaffen können.“


Schließlich kam die Reihe an Zyren, das Feuer zu holen. Heimlich schlich er zu seinem Vater und fragte: „Was soll ich tun? Wie soll ich das Feuer vom Berg zu unserer Raststätte bringen?“ – „Nimm keine heißen Holzscheite, sie verlöschen unterwegs oder verglimmen, wenn der Regen sie auf sie fällt. Nimm einen großen Kessel, schichte viel Holzkohle hinein, und du wirst das Feuer sicher zu uns bringen.“

Zyren tat, wie sein Vater ihn geheißen hatte. Er brachte einen Kessel voll glühender Holzkohle vom Berg mit. Die Menschen entfachten das Feuer, trockneten ihre Kleider, wärmten sich und bereiteten das Essen. Als der Khan erfuhr, wer das Feuer gebracht hatte, befahl er Zyren zu sich und schrie ihn wütend an: „Was fällt dir ein? Hast du gewusst, wie man das Feuer herbeischaffen muss, und hast so lange geschwiegen? Warum hast du es nicht sofort gesagt?“ – „Ich hab es ja selbst nicht geahnt…“, gestand Zyren. „Wie hast du es denn herausgefunden?“, fragte der Khan voller Ungeduld.
Der Khan setzte dem Jüngling so lange zu, bis Zyren endlich eingestand: „Ich habe alle deine Aufträge nur dank der Ratschläge meines alten Vaters ausführen können.“  
„Wo ist dein Vater?“ – „Ich habe ihn den weiten Weg in einer ledernen Tasche getragen.“ Da befahl der Khan, den alten Mann herbeizuführen, und sprach zu ihm: „Ich nehme mein Gebot zurück. Alte Menschen sind für die Jungen wahrlich keine Bürde. Alter bedeutet Weisheit. Du brauchst dich fortan nicht mehr zu verstecken und kannst gemeinsam mit allen weiterziehen!“

Burjatisches Märchen

Progreß Verlag, Moskau, 1962