Prall gefüllter Patchwork-Beutel

Der Märchenbeutel

  Vor langer Zeit lebte einmal ein Junge, der sehr gerne Märchen hörte. Eines Tages machte er sich einen Beutel, den er jedes Mal öffnete, wenn ein Märchen erzählt wurde, um ihn danach ganz fest zu zubinden. Er sammelte fleißig Märchen, doch niemals machte er seinen Beutel auf, um eines der Märchen zu erzählen.

Die Zeit verging, der Junge wurde zum Mann und sollte verheiratet werden. In der Nacht vor der Hochzeit wachte ein Diener vor dem Zimmer des jungen Mannes. Da hörte er plötzlich seltsame Stimmen. Sie kamen direkt aus dem Märchenbeutel.

„Morgen heiratet dieser ungeratene Sohn, der uns so grausam einsperrt“, hörte er eine Stimme. „Jetzt ist es aber genug. Morgen werde ich mich in eine Erdbeere verwan­deln und wenn der Kerl in mich hinein beißt, verbrenne ich ihm die Zunge!“ – „Und ich“, wisperte eine andere Stimme, „werde mich in einen Bach verwandeln. Wenn er von mir trinkt, soll er seine Sprache ver­lieren.“ – „Ich werde euch helfen“, sagte ein drittes Stimmchen. „Ich verwandle mich in einen großen Stein und wenn er vom Esel steigt, wird er sich die Füße stoßen, so dass er keinen Schritt mehr ge­hen kann.“ – „Da kann ich nicht tatenlos zusehen“, meinte eine vierte Stimme. „Ich werde hundert Schlangen ins Schlafgemach zaubern, damit sie Braut und Bräutigam mit einem Mal verschlingen.“

Der Diener, der dies alles gehört hatte, war zutiefst erschrocken. Am nächsten Tag führte er den Esel des jungen Mannes auf den Weg zur Braut. Nicht lange, da sah der Bräutigam eine Erdbeere am Wegesrand und wollte sie essen. „Für solche Dinge hat ein Bräutigam keine Zeit.“ Der Diener zog eilig den Esel weiter. 

Als sie lange Zeit geritten waren, kamen sie zu einem Bächlein. „Hier werde ich trinken!“, meinte der junge Mann. Doch der Diener gab dem Esel einen Hieb mit der Peitsche und sagte: „Bald werdet Ihr bei Eu­rer Braut Wein trinken!“ 

Als sie zum Haus der Braut kamen, stand urplötzlich ein großer, spitzer Stein vor der Haus­tür. Der Diener hob den Bräutigam kurzerhand aus dem Sattel und stellte ihn auf die Schwelle. Da schämte sich der Bräutigam sehr und war zornig auf seinen Diener. 

In der Nacht versteckte sich der Diener mit einem Messer unter dem Bett des Brautpaa­res. Kaum hatten sie das Licht gelöscht, kamen aus allen Winkeln Schlangen gekro­chen, hundert an der Zahl. Der Diener kämpfte gegen die Schlangen, bis sie alle tot waren.

Alle Gäste kamen angelaufen und der Diener musste alles erzählen. Der Bräutigam freute sich über die Treue seines Dieners und belohnte ihn reichlich. Dann nahm der Bräutigam seinen Beutel und begann, ein Märchen nach dem anderen zu erzählen, damit so etwas nicht noch einmal geschah.

Weil ich nicht will, dass mir die Märchen zürnen, habe ich meinen Märchenbeutel aufgemacht und für dich viele Märchen auf dieser Website erzählt. 

 

Märchen aus Korea. Fassung Djamila Jaenike nach A. Huwe, Märchen aus aller Welt, München 1979. Erschienen in „Märchenforum – Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur“, Frühling 2017, 73. Ausgabe, Freundschaft im Märchen.