Vollmond hinter Bäumen

Die Wurzelsophie

Zu einer Zeit als es nur wenige Ärzte gab und noch keine Apotheker, lebte am Rand eines Dorfes eine alte Frau, die Wurzelsophie. Ihre Hütte stand am Fuß eines Hügels, auf dem Brennnesseln, Brombeeren und Hollerbüsche wuchsen und wo die Käuze bei Nacht un­heimlich schrien. Ihre Hütte war klein und es roch darin ganz merkwürdig nach den Kräutern, die in großen Büscheln von der Decke herab hingen. An der Wand hingen Zöpfe aus Wurzeln aller Art. Und von diesen Wurzeln hatte sie auch ihren Namen bekommen, weil sie nicht nur jedes Kraut und jede Blume kannte, sondern auch die Wur­zeln aus der Erde grub und zu viel begehrten Arzneien kochte.

Über der Feuerstelle hing ein großer Kessel. In dem braute die Wurzelsophie ihre Tränke. Ihr Kessel dampfte oft bis in die späte Nacht hinein. Über dem Kessel sagte sie allerlei geheimnisvolle Sprüche oder machte seltsame, beschwörende Zeichen, damit der Sud auch richtig geriet.

Ich habe sagen hören, dass es Zaubertränke gewesen sein sollen. Ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist, aber ich weiß, dass alle Leute aus dem Dorf fest daran glaubten durch diese Tränke gesund werden zu können.

Die Wurzelsophie wusste mehr über Kräuter als jedes Arzneibuch. Deshalb baten sie ihre Nachbarn um Hilfe, wenn sie sich krank und elend fühlten, ihnen etwas weh tat oder wenn sie sich verletzt hatten. Die Wurzelsophie verkaufte ihnen dann ihre heilkräftigen Kräuter und Tränke. Wenn sie aber einen Rat brauchten, verlangte sie ein Stück Wammerl oder ein Gläschen Schnaps dafür.

Die Wurzelsophie war keine Ratschkartel und kam nur dann in die Häuser der Dörfler, wenn sie zu einem Kranken gerufen wurde. Den ganzen Tag über suchte sie Kräuter, grub Wurzeln aus, besuchte Kranke und braute ihre Tränke. Für mehr als einen freund­lichen Gruß im Vorübergehen reichte ihr die Zeit nicht.

Eines Tages stieg die Wurzelsophie auf der Suche nach der Mutterwurz hoch hinauf in die Felsen. Sie stieg über ein Grasband hinweg und geriet in eine Felswand, aus der sie nicht mehr herausfinden konnte. Ehe sie wusste, wie ihr ge­schah, stand sie wie gebannt auf einem Platz, der ihr weder einen Schritt vor noch zurück erlaubte. Daher blieb sie wie an den Felsen geklebt stehen.

Die Dämmerung senkte sich herab, Fledermäuse schwirr­ten um sie herum. Dann stieg der Mond aus den Felsen, schillerte wie eine Seifenblase am Himmel und wanderte bald frei, bald hinter lautlos segelnden Wolken durch die Nacht. Es wurde kalt. Der Wind erwachte und blies ihr bedrohlich ins Gesicht. Die Wurzelsophie murmelte beschwörend: „Wenn mich der Wind nur nicht in die Tiefe reißt!“ Aber mit einem Mal beruhigte sich der Wind.

Da stieg weißer Nebel um sie auf und wurde immer heller, bis sie erkannte, dass es schleierähnliche Gespinste waren, die ihr übers Gesicht wischten und sie umkreisten. Sie hörte sanfte Stimmen, die dunkel, lieblich und warm klangen. Plötzlich fühlte sie sich von sanften Händen gehoben und auf die Wiese vor dem Felsen getragen. Erst als sie ihre Hel­ferinnen auf die Wiese stellten, erkannte sie, wem sie ihre Rettung verdankte.

Es waren die Saligen, die Weißen Wilden Frauen. Sie hatte noch nie zuvor eine Salige Frau zu Gesicht bekommen, obwohl sie auf ihren Wanderungen nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Denn gehört hatte sie freilich schon von den Saligen Frauen: Im tiefen Wald sollten sie wohnen, in versteckten Höhlen oder auch am Uferdickicht an geheimnisvollen Wässern. Sie hatte auch gehört, dass sich die Saligen Frauen ihre Liebhaber unter den Menschen suchen sollen. Aber sie wusste nicht, ob das die Wahrheit war.

Und bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, tanzten die Saligen Frauen in ihren spinnwebzarten Schleiergewändern und von ihren langen, blonden Haaren umflossen im Mondlicht von ihr fort in den dunklen Wald hinein.

Am nächsten Morgen aber lief die Wurzelsophie zu ihrer Nachbarin und erzählte ihr, was ihr am vergangenen Tag im Wald begegnet war. Und die Nachbarin hat es wohl weiter er­zählt, denn sonst könnte ich es euch auch nicht erzählen.

Ein Alpenmärchen unbekannter Herkunft
Fassung Bettina von Hanffstengel