Der Drache bewacht ein Mädchen (Illustration)

Wem soll der Mantel gehören?

Es waren einmal drei Brüder, die hatten eine einzige Schwester. Das Mädchen war so schön, dass es nirgends in der Welt etwas Schöneres gab. Da fürchteten die Brüder, ein verwegener Mann könnte ihre Schwester sehen und rauben und hielten sie in einem hohen, steinernen Turm verborgen.

Eines Tages, als die Brüder auf die Jagd gingen, sagten sie zu ihrer Mutter: „Hüte unsere Schwester!“ – „Ja, seid unbesorgt, niemand wird sie entführen!“ Die Brüder brachen auf und die Mutter ging in den Turm zu ihrer Tochter, um ihr zu essen zu geben. Da kam, wer weiß woher, ein Drache geflogen. Er stürzte sich durch die offene Tür in den Turm, packte das Mädchen und war im selben Auenblick mit ihr verschwunden. Die Mutter jammerte und weinte, doch mit ihren Tränen konnte sich die Tochter nicht zurückholen.

Als die Brüder heimkamen, ging die Mutter zu ihnen hinaus und sagte: „Meine Söhne! Ich weiß, dass ihr sehr tapfer seid und euch niemand an Kühnheit übertrifft. Aber sagt mir einmal: Wozu ist jeder von euch im Unglück fähig?“

„Auf der Welt gibt es kein Ding“, sagte der älteste Bruder, „und sei es kleiner als die kleinste Nadel, das ich nicht finde, wenn es wirklich da ist! Und wenn es mit sieben Schlössern verschlossen ist oder auf dem Meeresgrund oder in einer Burg liegt, überall finde und hole ich es. Sogar so, dass niemand es merkt!“

„Und ich kann mitten im Lauf und im Flug jedes Wild, jeden Vogel erlegen!“, sagte der mittlere Bruder.

„Ich kann alles, was vom Himmel herunterfällt auffangen und festhalten, so groß und schwer es auch sein mag!“, sagte der jüngste Bruder.

„Gut, dann will ich euch von dem Unglück erzählen, das uns betroffen hat“, sagte die Mutter. „Als ich die Tür zu dem Turm öffnete, kam plötzlich ein Drache herein geflogen, packte eure Schwester und trug sie fort, wer weiß wohin…“

Die Brüder waren darüber sehr bestürzt und machten sich sofort auf den Weg, um die Schwester zu suchen. Vorher gelobten sie, nicht ohne die Schwester zurückzukehren.

Lange waren sie unterwegs. Durch viele Länder kamen sie, viele hohe Gebirge überschritten sie und endlich gelangten sie an einen dichten Wald. „In diesem Wald muss der Drache leben!“, sagte der älteste Bruder. Die Brüder gingen in den Wald hinein. Die Wipfel der Bäume ragten bis hinauf zu den Wolken, die Zweige waren ineinander verflochten. Die Brüder wanderten durch den Wald, immer weiter, bis sie zu einer Lichtung kamen. Sie schauten sich um – und sahen auf der Waldwiese ihre Schwester sitzen. Um sie herum lag zu einem Ring zusammengerollt ein riesiger Drache und bewachte sie. Von keiner Seite her konnten sie an ihre Schwester herankommen.

Da schlich sich der älteste Bruder von hinten an den Drachen heran, nahm einen Stein und warf ihn zur Seite. Der Drache wandte die Kopf dorthin, wo der Stein aufgeprallt war. Darauf hatte der Bruder nur gewartet. Er sprang über den Drachen hinweg, nahm die Schwester auf die Arme und lief fort. Der Drache bemerkte es nicht einmal. Eilig machten sich die Brüder auf den Rückweg. Bald darauf merkte der Drache, dass das Mädchen verschwunden war. Er schwang sich in die Luft und flog den Brüdern nach. Wie eine Sturmwolke senkte er sich auf sie herab, packte das Mädchen und erhob sich mit ihr hoch in den Himmel, bis hinauf zur Sonne.

„Wartet nur“, sagte der mittlere Bruder, „er wird nicht weit fortfliegen!“ Er legte sein Gewehr an, zielte und traf den Drachen in den Kopf. Der Drache zischte und brüllte, öffnete die Krallen und ließ das Mädchen fallen. Wie ein Stein stürzte sie in die Tiefe.

Doch da sprang der jüngste Bruder hinzu, ergriff die Schwester im Flug und setzte sie unversehrt auf die Erde. Glücklich und froh kehrten die Brüder mit der Schwester zu ihrer Mutter zurück.

Die Mutter aber hatte inzwischen einen schönen Mantel genäht, den sie jenem Sohn schenken wollte, der mehr als die anderen für die Rettung der Schwester getan hatte. „Meine lieben Kinder, wem von euch soll ich nun diesen Mantel schenken?“

Der älteste Bruder sagte: „Mir! Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten die anderen die Schwester nicht gefunden. Aber selbst wenn sie erfahren hätten, wo sie lebte, hätten sie es trotzdem nicht fertig gebracht, sie dem Drachen wegzunehmen. Wäre ich nicht gewesen, so wäre unsere Schwester umgekommen!“

„Wohl“, erwiderte der mittlere Bruder, „auf der Erde konnte ich nicht mit dem Drachen kämpfen, aber als er uns die Schwester entriss und mit ihr hoch in den Himmel hinauf flog, wer anders als ich hätte da den Drachen töten und sie retten können? Wenn ich nicht gewesen wäre, dann würde unsere geliebte Schwester jetzt nicht bei uns sein! Der Mantel muss mir gehören!“

„Nein“, widersprach der jüngste Bruder, „der Mantel gehört mir. Ich war es, der die Schwester vor dem sicheren Tod rettete, als sie hoch vom Himmel herunterfiel. Hätte ich sie nicht aufgefangen, dann wäre sie auf die Steine gefallen und zerschmettert liegengeblieben!“

Als die Mutter die Reden ihrer Söhne gehört hatte, sagte sie: „Wenn du nicht gewesen wärst, mein ältester Sohn, dann hätten die anderen Brüder die Schwester nicht gefunden. Doch auch wenn sie sie gefunden hätten, wären sie niemals imstande gewesen, sie dem Drachen wegzunehmen. Ohne dich, mein mittlerer Sohn, hätten sie den Drachen nicht töten können, als er mit ihr bis in den Himmel hinauf flog und meine Tochter wäre zugrunde gegangen. Aber auch ohne dich, mein jüngster Sohn, wäre sie nicht am Leben geblieben, als sie hoch vom Himmel herunterfiel. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre sie zerschmettert liegengeblieben. Ihr habt eure Schwester gerettet, weil ihr alle euer Bestes gegeben habt. Ich muss also wohl noch zwei Mäntel nähen!“

Ein Märchen der Abchasen aus: „Die Wunderblume und andere Märchen“, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1956

So oder so ähnlich könnten die Mäntel ausgesehen haben, die die Mutter für ihre Söhne genäht hat: https://hmn.wiki/de/Chokha#wiki-9