Das Märchen „Gerade genug“, wollte ich am vergangenen Wochenende im Museum Kühnertsgasse in Nürnberg erzählen, weil es so schön ist. Aber jedes Mal waren so viele jüngere Kinder da, für die dieses Märchen keine Bedeutung gehabt hätte, denn es setzt eine gewisse Lebenserfahrung voraus. Ich habe dieses Märchen in den letzten Wochen öfter erzählt und wollte es euch nicht vorenthalten.
Es handelt von Josef, dem Schneider und seiner Frau Anna. Josef, ein Schneider und Sohn eines Schneiders, hat genug Geld für einen Stoff gespart, um sich daraus einen Mantel zu nähen. Er hat seinen Vater mit dem Mantel stolz gemacht und durch den Mantel seine Frau Anna kennengelernt. Er trägt den Mantel jahrelang, bis der Stoff an einigen Stellen ganz abgeschabt ist. Er glaubt, den Mantel nun wegwerfen zu müssen. Anna schaut sich den Mantel genau an und entdeckt: „Es ist gerade genug für eine Jacke.“ Und so geht es weiter mit der Familiengeschichte und dem Stoff. Der Stoff wird immer weniger, die Geschichten werden dafür mehr.
Aus der Jacke wird eine Mütze und aus der Mütze eine Fliege. Jedes Mal ist es Anna, die Josef ermutigt und ihm zeigt, was sich Schönes aus dem Stoff machen lässt.
Die Enkelkinder sehen in der Fliege einen Schmetterling. Eines Tages fliegt der Schmetterling davon. Josef ist darüber so traurig, dass er nicht mehr aus dem Bett aufstehen will, weil mit dem Verlust des Stoffes scheinbar alles zu Ende ist. Da ruft Anna die Familie an Josefs Bett. Gemeinsam bitten sie Josef, die Geschichten, die mit dem Stoff verbunden sind, zu erzählen.
Nun erkennt auch Josef den Wert der Geschichte und dass die Geschichte so lange lebendig bleibt, wie er und seine Familie sich daran erinnern.
Ich liebe dieses Märchen, weil es so deutlich macht, wie wertvoll Märchen und Geschichten sind. Es zeigt, wie wichtig es ist, einen guten Erzählfaden für die eigene Lebensgeschichte zu finden: „Ist mein Leben eine Folge von Verlusten oder eine Kette von Erfahrungen?“
Anna schneidet Josefs negativen Erzählfaden immer wieder ab, wenn das Kleidungsstück geändert werden muss und Josef klagt: „Es ist nichts mehr davon übrig, nichts.“ Dann sagt Anna und führt damit einen positiven Erzählfaden ein: „Es ist genug übrig. Gerade genug für…“
Anna weiß, dass sich alles im Leben wandelt. Ganz am Ende erkennt auch Josef, dass nicht der Stoff das Wertvolle ist, sondern die Erfahrungen, die er mit dem Stoff gemacht hat und die zur Familiengeschichte geworden sind.

„Du bist, was du erzählst!“ Das ist meine Philosophie. Dazu gehören die Märchen und Geschichten, die du als Kind gehört und geliebt hast. Das sind auch die Geschichten über dich selbst, die Welt und das Leben. Mit meinen Märchen, Workshops und Blogartikeln will ich Frauen ermutigen, sich selbst zu ermächtigen und einen kritischen Blick auf die Narrative unserer Gesellschaft zu entwickeln. Wenn ich nicht gerade blogge oder Märchen erzähle, sitze ich mit einem Buch und meinen Katzen auf dem Sofa.
Hallo Lilo, das Rätsel war wirklich einfach zu lösen. Das Bild ist aus der Sandskulpturen-Ausstellung 2020 in Travemünde zum Thema…
Hallo Bettina, dass es die 7 Geißlein waren, war für mich ziemlich einfach erkennbar durch die Ziegenköpfe. Das Bild ist…
Liebe Gabi, vielen Dank für deinen Kommentar! Herzliche Grüße Bettina
Ja, dieser Lookism ist auch ein Teil davon und der Anpassungsdruck kann sich wie Terror anfühlen.
Hallo Britta, ganz genau so ist es!
hallo Bettina, na das sind die sieben Geißlein also korrekt der Wolf und die sieben Geißlein. und das kleinste wird…
Liebe Bettina, wie gekonnt du die Sprache eingesetzt hast, um auf dein Thema aufmerksam zu machen, klasse! Das Kleine ist…