Plakat mit der Aufschrift: Man ist nie zu kein, um großartig zu sein!

Einleitung

Beim Scrollen auf meinem Smartphone blieb ich an einem Foto hängen: „Man ist nie zu klein, um großartig zu sein!“ stand darauf. Ein Satz, den viele motivierend finden – für mich ist er das Gegenteil. Vielleicht gilt er für Kindergartenkinder, bei denen „Kleinsein“ noch etwas Liebenswertes hat. Doch was, wenn man klein bleibt, auch als Erwachsene? Ich bin kleinwüchsig, knapp 1,50 Meter groß – und dieser Spruch ärgert mich. Denn er zeigt, wie sehr Sprache Größe mit Wert und Bedeutung verknüpft.

Sind nur große Menschen großartig?

Es ist nicht selbstverständlich, kleine Menschen, gleich welchen Alters für großartig zu halten. Das ist großen Menschen vorbehalten. „Das war großer Mann! Der hatte ein großer Talent für die Politik!“, heißt es manchmal. Das hat nichts mit der Körpergröße zu tun, sondern mit dem, was dieser Mensch geleistet hat.
Gerade in der Diskussion um Kleinwuchs und Gesellschaft zeigt sich, wie stark Größe mit Wert verknüpft wird – sprachlich, kulturell und unbewusst.

Warum Sprache kleine Menschen klein macht

Großartig, großmächtig, großherzig, großmütig und großzügig, eine große Frau, ein großer Mann, ein großes Talent – das sind alles positive Begriffe!

„Du bist ja schon groß!“, heißt „Du bist ein Kind, das schon eine Menge kann und versteht, vielleicht mehr, als man dir auf den ersten Blick ansieht.“
Im Gegensatz dafür bedeutet: „Dafür bist noch zu klein!“ oft „Dafür bist du noch zu jung!“ Dieser Spruch zeigt ganz deutlich, wie stark Körpergröße und Alter in der Alltagssprache miteinander verknüpft sind.

Es gibt nur wenige „große“ Begriffe, für die das nicht gilt:
Großmäulig und großspurig sollte man nicht sein, auch nicht als großer Mann.

Nur selten ist etwas Kleines etwas ganz Besonderes, wie das Kleinod, das eine besondere Kostbarkeit ist.

Aber viele andere Begriffe mit „klein“ am Wortanfang sind eher negativ besetzt, denn wer möchte schon als kleinkariert, kleinlich, kleinmütig und kleingeistig gelten? Oder sich kleinkriegen lassen?
Wer möchte als Mensch angesehen werden, der aus jeder Kleinigkeit einen Popanz macht? Keiner hat Lust sich mit Kleinkram oder Kleinscheiß zu beschäfitgen und im ewigen klein-klein stecken zu bleiben, fast unsichtbar zu sein und für kleines Geld zu arbeiten.
Große Aufgaben sind zwar eine Herausforderung, aber viel lohnender: Sie bringen Sichtbarkeit mit sich und lohnen sich auch materiell.

Der kleine Mann auf der Straße kriegt oft nur eine kleine Rente.

Aber auch große Leute freuen sich, wenn sie das nötige Kleingeld haben oder nicht vergessen, das Kleingedruckte zu lesen.

Napoleon, Zwerge und andere Klischees über Kleinwuchs

Es gibt nichts Lächerlicheres als einen kleinwüchsigen Mann, der sich durchsetzen will: „Der leidet wohl am Napoleon-Syndrom!“ Eine kleinwüchsige Frau dagegen probt den Zwergenaufstand.
Passt nur auf, dass euch kleine Leute nicht mal einer zu Kleinholz macht! Vielleicht wäre das auch zu mühevolle Kleinarbeit?
In der Alltagssprache ist es vom Zwerg nicht weit bis zum Giftzwerg, einem Menschen mit gehässigem und boshaften Verhalten, der dadurch seine geringe Körpergröße wettmachen will. Merke: Lieber klein und gemein, als kleinmütig!
Aber warum muss ein kleinwüchsiger Mensch gemein und boshaft einen Kleinkrieg anzetteln? Warum kann er sich nicht anders durchsetzen?
Vielleicht hat er oder sie die Erfahrung gemacht, dass seine oder ihre Leistungen, seien sie groß oder klein, klein geredet werden, um ihnen Wichtigkeit und Bedeutung abzusprechen. Durch die Bewertung von Leistung können Menschen klein gehalten und groß gemacht werden.

Manchmal sagt einer: „Ich möchte ich vor Wut darüber alles kurz und klein schlagen!“
Dieser Satz hat richtig Wucht: Ich kann die vielen kleinen Stückchen auf dem Boden liegen sehen. Da finde ich kein Gegenstück mit „groß“, das stärker wäre. „Ich könnte vor Wut alles in große Stücke schlagen“, klingt seltsam. Das geht nicht.

Kleinkleckersdorf nennt man im Nordosten Deutschlands das, was im Bayerischen Raum Hintertupfingen heißt, also ein Dorf kurz vor Hinterwald. Daher kommen die Hinterwäldler, die fernab jeder Zivilisation wohnen. Wer möchte schon gerne aus Kleinkleckersdorf kommen?

Sprüche und Lieder in „klein“ und „groß“

„Die süßesten Früchte erreichen nur die großen Tiere.
Und weil wir beide klein sind und diese Früchte hoch sind
erreichen wir sie nie!“

Kennst du ein ähnliches Lied für große Menschen?

Kleinwüchsige müssen sich damit zufrieden geben, in Kleinkleckersdorf in einem kleinen Laden kleine Brötchen zu backen. Wem aber gehört die Bäckerei? Wahrscheinlich einem großen Geschäftsmann!

Wenig tröstend finde ich diesen Spruch:
„Die kleinen Leute hat der liebe Gott erschaffen,
die anderen sind nur große Laffen!“
Das erinnert doch sehr an das sprichwörtliche Pfeifen im Keller…

Kleine Leute im Märchen

Im Märchen gibt es selten kleinwüchsige Menschen. Die Kleinen Leute, wie sie oft genannt werden, sind keine Menschen, sondern ein eigenes Volk. In den Märchen der Brüder Grimm sind es meistens Zwerge oder kleine, graue Männchen oder Weiblein. In Franken gibt es noch die Holzfräulein, die auch Holz- oder Buschweiblein, Waldweibchen oder -fräulein, aber auch Moosfräulein oder -weiblein genannt werden. Sie sind kleiner als Menschen und diesen wohl gesonnen.

Kleinwuchs in Alltag und Beruf: Unsichtbar trotz Leistung

Zwerge und Holzfräulein sind kleiner als  Menschen. Niemand erwartet von ihnen größer zu sein, als sie sind. Das stelle ich mir sehr erleichternd vor. Das ist bei uns kleinwüchsigen Menschen ganz anders. Da kann man doch was machen, entweder mit einer operativen Beinverlängerung oder Wachstumshormontherapie oder wenigstens mit High Heels! Wenn auf der körperlichen Ebene die Größe nicht verlängert werden kann, dann muss der/die Kleinwüchsige lernen bei Bedarf Charisma rauszuhauen, um wahrgenommen zu werden. Aber auch dann ist nicht gesagt, dass sie als die wahrgenommen werden, die sie sind.
Kleinwüchsige Menschen werden oft für jünger gehalten, für dümmer, für unerfahrener und für unbedeutender. Die große (normalwüchsige) Frau ist die Chefin, nicht die Kleine neben ihr. Das ist so anstrengend, bezogen auf die Lebensspanne, denn das hört mit der Jugend nicht auf. Mit 40 Jahren betrachtete ich mich zufrieden im Spiegel und stellte fest: „Für unter 20 Jahre gehst du nicht mehr durch! Endlich!“

Wie die Coaching-Sprache Größe glorifiziert

Ich kriege das kalte Kotzen, wenn ich auf Coaching-Webseiten lese: „Komm in deine wahre Größe!“ Schon wieder bin ich nicht gut, so wie ich bin, muss ich noch größer werden!
Das zeigt wieder: „Je größer, desto besser! Klein sein ist nicht gut, wird auch hier negativ bewertet.“

Natürlich weiß ich, dass sich jeder Mensch bei dieser einfachen, bildhaften Sprache etwas vorstellen kann. Nur, warum wird klein sein so negativ bewertet?

Wie wir über Größe neu denken sollten

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir Kleinwuchs neu betrachten – ohne Klischees, ohne Bewertungen.
Größe ist kein Maßstab für Bedeutung, sondern ein Spiegel unserer Werte. Und vielleicht liegt wahre Größe genau darin, klein, aber echt zu sein.