
Einleitung:
Angeregt durch Judith Peters habe ich mir noch einmal meine drei wichtigsten Werte bewusst gemacht: Selbstbestimmung, Kreativität und Empathie.
Mir war gar nicht bewusst, wie wichtig es mir ist, selbst bestimmt zu leben. Nun habe ich das Gefühl, als ob das die Voraussetzung für alles Andere ist. Wie könnte ich Kreativität leben ohne eigenständig denken und selbst bestimmt handeln zu können? Vielleicht bedingen diese beiden Werte auch einander: Ohne einen kreativen Geist hätte ich mir ein selbst bestimmtes Leben vielleicht nicht einmal vorstellen können.
Auch die Empathie ist damit verbunden, denn wenn ich nicht mit mir selbst in Resonanz bin, wie sollte ich dann selbstbestimmt leben können?
Selbst bestimmt leben
Um meinen Wert „Selbstbestimmung“ besser beschreiben zu können, habe ich mich bei anderen umgeschaut und herausgefunden, dass Selbstbestimmung einerseits etwas ganz Grundlegendes ist und andererseits etwas zutiefst Individuelles.
Weshalb ist Selbstbestimmung mein wichtigster Wert?
Das Ullrich-Turner-Syndrom (UTS) und die vielen Vorurteile, die es zu der Zeit gab, in der ich diagnostiziert wurde, verurteilten mich scheinbar dazu, ein von anderen Menschen bestimmtes Leben zu führen. Das UTS wurde als das alles bestimmende Merkmal angesehen und die Geschichte so oder so ähnlich erzählt: „Du bist eine Turner-Frau. Deshalb bist du in deinen Möglichkeiten eingeschränkt und musst dich mit weniger zufrieden geben, dein Leben lang kleine Brötchen nach den Rezepten anderer Menschen backen und dich daran gewöhnen, dein Leben nicht selbst bestimmt und eigenverantwortlich gestalten zu können. Du wirst dein Leben lang nicht nur ärztliche Betreuung, sondern auch psychologische Führung brauchen, weil das deine Lebensqualität wesentlich verbessern wird.“
Es ist nicht das UTS, das hier Grenzen aufzeigt. Es ist die Stimme des Vorurteils, die diese Geschichte erzählt, auch wenn ich hier Fachliteratur aus den 80er Jahren des 20. Jhds. zitierte. Die Stimme des Vorurteils versucht, die Regie über mein Leben zu übernehmen, meine Figur zu entwickeln, ihr Werte zuzuweisen, das Drehbuch zu schreiben, die Schulbildung zu planen, den Beruf und schon mal die nächste Folge zu konzipieren…
Selbst bestimmt leben hatte für mich immer die Bedeutung von „gegen den Wind segeln“, mich abzugrenzen gegen die Deutungshoheit der (oft selbst ernannten) Fachleute, denn die Geschichte über das UTS, die nicht nur ich, sondern auch meine Mutter zu hören bekam, ermutigte diese zu Übergriffen und Eingriffen in mein Leben, denn jeder Übergriff oder Eingriff in meine Selbstbestimmung hatte das Potential mein Leben erheblich zu verbessern. Ja, sie hätte sogar ihre Pflicht als Mutter vernachlässigt, wenn sie mich meine eigenen Entscheidungen hätte treffen lassen.
Es war also ganz zentral für mich herauszufinden:
Wer bin ich? Ist das UTS wirklich mein zentrales Merkmal, oder sozialwissenschaftlich gesprochen: „Hat das UTS wirklich den Master-Status in meinem Leben, wie es ja auch der damals meistens verwendete Begriff Turner-Frau oder Turner-Mädchen nahe legt?“
Was für Werte habe ich? Wie und wo will ich leben?“
Es war so wichtig, mir meiner Werte bewusst zu werden, ganz unabhängig von den Vorstellungen anderer Menschen, sie zu leben, eigene Entscheidungen zu treffen und sie auch zu verantworten. Du kannst nur an eigenen Entscheidungen wachsen, gleichgültig ob es gute oder schlechte Entscheidungen waren.
Eine realistische Selbsteinschätzung ist zentral, um Selbstbestimmung leben zu können. Es bedeutet herauszufinden, was ich gut machen kann und wo meine Grenzen und Begrenzungen sind und entsprechend zu handeln. Ich setze Grenzen, wenn ich sie brauche und akzeptiere meine Begrenzungen (Dinge, die ich nicht oder nicht gut kann). Ich sage nur „Ja“, wenn ich es auch so meine und nehme mir die Zeit, wichtige Entscheidungen zu überdenken.
Zur Selbstbestimmung gehören ein guter Kontakt zu mir selbst, zu meinen Werten, Bedürfnissen und Wünschen, aber auch eine realistische Selbsteinschätzung, Reflexionsvermögen und Selbstmitgefühl, wenn ich an meine Grenzen stoße.
Außerdem brauche ich Zeit und Klarheit, um herauszufinden, was ich wirklich will.
Und doch ist Selbstbestimmung genau das: Mir mein Leben nach meinen eigenen Werten, Wünschen und Bedürfnissen einzurichten wo immer das möglich ist.
Ich brauche also Wahlmöglichkeiten. Es muss also zwei oder mehrere gute Alternativen geben und nicht maximal zwei Möglichkeiten von denen eine genauso unattraktiv ist, wie die andere.
Die eigenen Grenzen zu achten und von außen auferlegte Begrenzungen zu hinterfragen ist oft nicht einfach. Die Erzählung über meine vermeintlichen Begrenzungen waren ja wissenschaftlich abgesichert. Auf die Fragen wie: „Kann ich meine Grenzen erweitern? Habe ich diesen Fehlschlag dem UTS zu verdanken, oder kann ich es doch besser machen und mehr erreichen, wenn ich anders vorgehe?“, waren oft schwer zu beantworten.
Selbstbestimmung lässt sich manchmal nur ganz rudimentär leben. Manchmal geht es nur darum, in einer Situation, die ich nicht ändern kann und in der meine Möglichkeiten selbst bestimmt zu agieren, total eingeschränkt sind, gut zu mir selbst zu sein. Ich kann mich über mich oder die Welt ärgern oder ich kann voller Mitgefühl mit mir selbst die Lage betrachten. Das wirklich Wunderbare am Selbstmitgefühl ist, dass sich aus diesem Selbstmitgefühl auf der Basis der geteilten Menschlichkeit Mitgefühl und Verständnis für andere entwickeln.
Selbstbestimmung öffnet einen Möglichkeitsraum: Ich lebe so, wie es mir entspricht. Dazu gehört auch, dass ich mir bewusst werde, was für Glaubenssätze ich habe: Gehört es sich einfach so, dass ich dieses tue oder jenes unterlasse? Schränkt mich das UTS ein oder glaube ich das nur?
Ich kann mir bewusst werden: „Die Macht liegt immer im gegenwärtigen Moment“, wie Louise Hay sagt. Ich kann nicht ändern, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber ich kann ändern, wie ich darüber denke, was ich für Schlussfolgerungen ziehe und wie ich mich deshalb fühle. Damit öffne ich wieder eine Tür in den Möglichkeitsraum: „Auch wenn ich in der Vergangenheit oft daran gehindert worden bin, selbst bestimmt zu leben. Was kann ich heute für mich tun, um meine Selbstbestimmung zu leben?“
Nur wenn ich selbstbestimmt lebe, kann ich selbstwirksam handeln.
Meine Selbstbestimmung endet da, wo es Regeln gibt, die ich für gut halte, wie Regeln im Straßenverkehr, bei der Kommunikation und im menschlichen Miteinander. Verbindlichkeit finde ich besonders wichtig.
Bei der Gestaltung meiner Workshops ist es essentiell für mich, den Teilnehmenden Selbstbestimmung zu ermöglichen, indem ich ihnen auf Augenhöhe begegne und ihnen mehrfach Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion gebe.

Kreativität
Auch Kreativiät ist ein Wert, der so ganz unterschiedlich definiert wird, vom Kinderbild, zum selbst gestalteten Strickpullover, bis zur bahnbrechenden Erfindung – alles geht nur mit Kreativät. Für mich ist Kreativiät eine Lebenshaltung.
In Anlehnung an einen Spruch von Loriot: „Ein Leben ohne Kreativität ist für Kleinwüchsige möglich aber sinnlos.“
Warum?
Ich glaube, dass Kleinwüchsige von Kindheit an regelrecht darauf trainiert werden, kreativ zu werden, um ihre Ziele zu erreichen, weil es in unserem Alltag so viele Hindernisse gibt. Manchmal bleibt nur die Wahl, ob ich etwas nicht tue oder ob ich es anders mache.
Ich habe einmal in Rahmen eines Seminars eine Metalltür abgeschliffen. Das Haus war eine Baustelle, Leitern oder Stühle gab es nicht. Nach einer Weile hatte ich jede erreichbare Stelle der Tür abgeschliffen, aber die Tür war noch nicht fertig. Ich holte also zwei Ziegelsteine, um ein wenig höher weiter zu machen, dann noch einen usw. „Oh, wie kreativ!“ fanden alle anderen. Es gibt sogar ein Foto von mir auf den Steinen stehend, die Tür abschleifend. Ich verstand die Aufregung nicht, denn für mich war das ganz normaler Alltag.
Solche Situationen trainieren den kreativen Geist ungemein. Ich suche automatisch nach einer Alternative zur vorgegebenen Situation.
Ohne Kreativität hätte ich aufgegeben, nachdem ich begriffen hatte, dass ich aus bestimmten Gründen meine Berufe Erzieherin und Diplom-Soialpädagogin nicht im vorgegebenen Rahmen ausüben kann. Was hätte ich, mangels Alternative, tun können? Ich hätte mich auf Arbeitsstellen mit schlechten Rahmenbedingungen so lange abgearbeitet, bis ich endlich in Erwerbsminderungsrente hätte gehen können. Ich wäre krank und unglücklich gewesen und hätte das Gefühl gehabt, eine Last für die Gesellschaft zu sein. Ich hätte mich auf die miesesten Arbeitsstellen eingelassen, nur um diesem Gefühl zu entgehen.
Zum Glück für mich und für dich ist es anders gekommen: Mein kreativer Geist hat mich nicht im Stich gelassen und ich habe mich als Märchenerzählerin neu er- und gefunden! Und – oh Wunder! – viele Dinge, die ich in meinem Ewerbsleben gelernt hatte, kann ich als Märchenerzählerin in neuem Glanz erstrahlen lassen!
Als Märchenerzählerin ist es mir wichtig, sichtbar zu machen, dass Frauen Heldinnen sein können, die ihre Ziele selbst bestimmt errreichen wollen und sich nicht so passiv verhalten wie in den meisten Märchen der Brüder Grimm
Auch in meinen Workshops rege ich die Teilnehmerinnen an, selbst kreativ zu werden, um Erkenntnisse zu verdichten und so jederzeit abrufen zu können.
Ich liebe Sprachspielereien und freue mich an jedem, der mit der Sprache spielt:
Ein Sprachspieler auf hohem Niveau ist Galsan Tschinag, der tuwinisch-mongolische Autor und Schamane, der mit mehreren Sprachen spielt: tuwinisch, mongolisch und deutsch, vielleicht auch auf kasachisch und englisch, wer weiß?
Auf seine Sprachspielereien kann ich sehr gut reagieren. Er stellte zum Beispiel einmal die Frage: „Früher gab es drei große Länder, die mit einem U beginnen, nämlich die USA, die UdSSR und welches war das dritte Land?“ Ich antwortete reflexartig mit: „Unsere Deutsche Demokratische Republik“, wie die DDR von Erich Honecker genannt wurde.
Ich selber liebe es Wörter zu verdrehen. Aus einem Bussard wird die Kunst, ein Bus zu sein. Aus dem Frankenschnellweg, die Bayernlangsamstraße.
Auch bei der Erarbeitung von Märchen kommt mir meine Kreativät zu Gute: Wenn sich in einem türkischen Märchen der Balkon vor dem Haus befindet, dann weiß ich, weil ich ein wenig türkisch kann, dass im Türkischen ein Balkon sich nicht am Haus, sondern vor dem Haus befindet. Auch das Bild hängt nicht an, sondern vor der Wand. So formuliere ich den vorgegebenen Satz um und dann ist der Balkon nicht vor dem Haus, sondern vorne am Haus. Mein Sprachgefühl atmet auf und ist zufrieden.
Ich erzähle auch gerne Bildergeschichten. Sieht diese Möwe nicht aus, als würde sie Ballett tanzen?

Empathie
Das Tolle an meinem Beruf als Märchenerzählerin ist, dass ich empathisch sein kann, ohne die Last der Welt auf meine Schultern zu laden. Ich will Menschen und Kulturen, deren Lebensweise und Glauben in das Bewusstsein meines Publikums bringen, weil ich glaube: „Nur das, was ich kenne und schätze, bin ich bereit zu unterstützen. Nur da höre ich hin, wenn sie erwähnt werden oder spüre, dass hier etwas fehlt.“
Also erzähle ich neben Frauenmärchen gerne Märchen aus anderen Kulturen und Ländern, wie Afghanistan, der Mongolei und der First Nations in Nordamerika (das sind die Menschen, die oft als Indianer bezeichnet werden).
So richtig bewusst wurde mir das durch Knut, den Eisbären. Im Zuge des Hypes um Knut wurde im Fernsehen häufig über die sich verschlechternden Lebensbedingungen von Knuts wilden Verwandten berichtet. Für die Menschen, die in dieser Region leben, interessierte sich fast niemand. Auch ihre Lebensbedingungen haben sich durch den Klimawandel dramatisch verändert, so dass Regeln, die seit Menschengedenken gelten, außer Kraft gesetzt sind und Menschen deshalb in tödliche Gefahr geraten können. Diese Ignoranz hat mich erschreckt und geärgert.
Sogleich habe ich angefangen, mich mit der Märchenwelt dieser Region auseinander zu setzen, um für den nächsten Erzählanlass ein paar schöne Märchen erzählen zu können.
Auch meine große Sammlung von Märchen aus Afghanistan ist aus einem ähnlichen Impuls heraus entstanden: Als die Taliban vor vielen Jahren die Macht in Afghanistan übernahmen und die Frauen in ihrem Zuhause einsperrten und unter die Burka zwangen, fragte ich mich: „Kann das alles gewesen sein? Wie kann ich die afghanischen Frauen sichtbar machen?“ Es hat ein wenig gedauert, bis ich schöne Frauenmärchen aus Afghanistan gefunden habe. Das schönste Märchen, „Die Fee aus dem Granatapfel“, habe ich dann als Abschlussmärchen bei meiner Ausbildung zur Märchenerzählerin in der Märchenschule DornRosen erzählt, die es leider nicht mehr gibt.
„Die Fee aus dem Granatapfel“ kannst du auf meiner Webseite anhören. Mich selbst kannst du live im Museum Frauenkultur Regional-Intermational am 11. Dezember in Fürth erleben.

Die Fee aus dem Granatapfel
Lieber Uwe, vielen Dank für deinen Kommentar! Das Faszinierende an Nürnberg ist, dass Nürnberg eine märchenhafte Altstadt hat und gleichzeitig…
Sehr ansprechend und motivierend. Das würde mir auch gut gefallen, leider bisschen weit. Aber ich behalte es mal auf dem…
Wunderbar, dass es Dich und Deine Arbeit gibt. Märchenerzählen versus digitaler Overload. Mach weiter so!
Liebe Bettina, danke, dass du Frauenmärchen lebendig erhältst und weitergibst! Als ich jünger war, habe ich eine Zeitlang auch solche…
Das gefällt mir; ein sehr fundierter Artikel, er erklärt gut wozu (d)ein Märchentisch gut ist und was die Gegenstände bedeuten.…
Super Schön geschrieben Danke zorica Märchenerzählerin
Märchentisch kannte ich noch gar nicht. Die Idee ist so simpel und wunderschön. Pannesamt kostet ja nicht die Welt und…