Ich mit meiner Unterstützerin vor KI-aufgehübschtem Hintergrund

Einleitung:
In diesem Artikel beschreibe ich, was die Erzählungen über das UTS vor allem in meiner Kindheit, Jugend und Jungerwachsenenzeit für mich (und für viele Frauen in meinem Alter), für unsere Lebensperspektive und unser Leben bedeutet hat. Gleichzeitig ist dieser Artikel eine Abrechnung mit den vielen Vorurteilen, die nicht nur durch Mediziner*innen über uns Frauen mit UTS verbreitet wurden.

Was ist das UTS?

Diese drei Buchstaben sind das Kürzel für das Ullrich-Turner-Syndrom. Wenn dich der medizinische Hintergrund interessiert, kannst du das auf  der Webseite der Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland e. V. nachlesen.

Das UTS ist eine seltene, chromosomal bedingte Erkrankung, die auf dem X-Chromosom liegt und nur Mädchen und Frauen betrifft. Es gibt viele, verschiedene Symptome (Anzeichen) für das UTS. Einige beeinflussen die Gesundheit, wie Herz- oder Nierenfehler, andere das Aussehen, wie verkürzte Mittelhandknochen oder der Kleinwuchs. Die meisten von uns können keine leiblichen Kinder bekommen, weil unser Körper keine weiblichen Geschlechtshormone produziert.

Das UTS macht klein und dumm

Lange Zeit wurden wir Bertroffenen als Turner-Mädchen bezeichnet, ganz unabhängig vom Alter. Und wenn du alt bist, bist du ein altes Mädchen, das einen Betreuer braucht, aber keine Frau, die selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben lebt.

Ist das UTS tatsächlich das zentrale Merkmal in meinem Leben, das nicht nur dafür sorgt, dass ich kleinwüchsig bin sondern das auch die meine Potentiale dezimiert?

Lange Zeit glaubten Mediziner*innen genau das: Eine Studie, die Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland herauskam bewies: Frauen mit UTS können nicht selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben. Hierbei ging es nicht ausschließlich um fehlende kognitive Kompetenzen, es wurde uns auch die Fähigkeit abgesprochen, eigenständig unseren Alltag zu meistern.

Damit wurden uns so grundlegende Dinge, wie selbst zu bestimmen, wo wir leben und wie wir leben wollten, abgesprochen.

Praktische Auswirkungen

Viele Eltern taten das, was man damals in der Vereinigung beschönigend „Überbehütung“ nannte. Überbehütung bedeutet, dass Eltern Kindern das abnehmen, was diese selbst tun könnten. Bei uns aber hörte die Überbehütung nicht mit dem 18. Geburtstag auf, sondern ging einfach weiter, denn wir waren ja keine richtigen erwachsenen Frauen (diesen Doppler muss ich zur Verdeutlichung mal bringen), sondern Turner-Mädchen!

Dann hat die Tochter den Führerschein, ein eigenes Auto, das sie selbst gekauft hat und dessen Unterhaltskosten sie bezahlt, aber die Eltern fahren sie zu den Treffen der Regionalgruppe, weil das Auto zu klein ist, um auf der Autobahn fahren zu können!

Anderen Eltern ist es damals geglückt, ihren Töchtern zu verbieten, im eigenen Auto zu den Treffen des Vereins zu fahren!

Viele Eltern trauten ihren Töchtern nicht zu, in einer eigenen Wohnung zu leben.
Sogar in der Turner-Syndrom-Vereinigung wurde Ende der 80er Jahre heftig darüber debattiert ob und wenn ja wann Frauen mit UTS bei den Eltern ausziehen und in einer eigenen Wohnung leben könnten.
Wenn die (manchmal gar nicht so) jungen Frauen sich durchgesetzt hatten und ausgezogen waren, ließen die Eltern noch lange nicht los. 
Unter dem Deckmantel der Fürsorge brachten sie ihre Töchter dazu, ihnen den Wohnungsschlüssel zu überlassen, um dann jederzeit unangekündigt in der Wohnung aufzuschlagen und zu überprüfen, ob die Wohnung der Tochter aufgeräumt und geputzt war und gegebenfalls nachzuhelfen, wenn das Vorgefundene nicht ihren Vorstellungen entsprach.

Ich denke, dass manche Eltern solche Impulse haben, ihnen aber nicht nachgehen, weil sie wissen, dass man ein eigenständiges Leben lernen muss, am besten unbeobachtet, und dass man sich nur dann einmischen darf, wenn man um Hilfe gebeten wird.

Wie konnten die Autoren der Studie zu diesem Ergebnis kommen, das so offentlich falsch ist?

Das UTS ist eine seltene Erkrankung, d.h. es gibt wenige von uns, etwa eine auf 2500 Mädchengeburten. Es ist also sehr schwierig  Teilnehmerinnen für eine Studie zu finden, 100 sollten es schon sein, damit die Studie relevant ist. Und wo sind kranke Menschen zu finden? In einem Krankenhaus oder in Anstalten. Dass wir außerhalb einer Anstalt lebensfähig sind, kam den Autoren dieser Studie nicht in den Sinn… Und so bekamen die Wissenschaftler*innen heraus, was sie schon wussten: Turner-Mädchen haben zu wenig Intelligenz und alltagspraktische Fähigkeiten, um selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben zu können.

Damals dachte man allen Ernstes: „Kennste eine, kennste alle“, und das obwohl das UTS ein Syndrom ist, was immer ein Bündel von Symptomen (Anzeichen) ist. Aus den Symptomen, die inzwischen dem UTS zugeordnet wurden, hat jede eine andere Auswahl mitbekommen. Da ist es nur logisch, dass wir uns voneinander unterscheiden. Außerdem kommen wir alle aus verschiedenen Familien und verarbeiten auch unsere Diagnose ganz unterschiedlich.

Erst Anfang der 80er Jahre fand der Pädiater (Kinderarzt) Prof. Johannes Nielsen aus Aarhus, Dänemark heraus, dass Mädchen und Frauen mit UTS normal intelligent sind.

Die Vorstellung von der geistigen Retardierung hielt sich in der Literatur jedoch noch weitere 30 (!!!) Jahre. Wie viele Mediziner*innen und andere Fachpersonen bis heute die Geschichte von der geistigen Retardierung von uns Frauen mit UTS glauben, das weiß ich nicht.

Literaturrecherche zum UTS Anfang der 90er Jahre

Bei der Literatur-Recherche für meine Diplomarbeit mit dem Titel: „Selbstkonzept versus Stigmatisierung – Untersuchung zum Verarbeitungsprozess der Diagnose UTS bei betroffenen Frauen“, die ich 1994 geschrieben habe, fand ich folgendes Zitat, das die Haltung zu uns Betroffenen sehr knapp auf den Punkt bringt: „Die Intelligenz ist meist deutlich verringert, die Sexualität fehlt im allgemeinen völlig.“
Pschyrembel, Strauß und Petri (Hrsg.) 1991, S. 507

Schade, dass man Wissenschaftler*innen nicht wegen übler Nachrede verklagen kann!

Auswirkungen auf das Leben von Mädchen und Frauen mit UTS

Dieses Hirngespinst der Mediziner*innen steht ja nicht im luftleeren Raum! Es hatte große Auswirkungen auf das Leben und die Lebensqualität von uns Betroffenen: Bis heute dürfen wir aus medizinischen Gründen abgetrieben werden, weil die Erkrankung schon bei der Geburt vorhanden ist. Kein Paar kann dazu gezwungen werden, sich auf uns einzulassen, denn die Beratung durch die Mediziner*innen ist nur so gut, wie ihr Kenntnisstand. 

Auch die Lebensqualität leidet unter der Idee, wir seien geistig ein wenig eingeschränkt: Fördereinrichtung/Integrativer Kindergarten statt Regelkindergarten, Mittlere Reife statt Abitur, Ausbildung statt Studium… die Liste ließe sich beliebig verlängern. Viele Erzieher*innen, Lehrer*innen, aber vor allem Eltern verließen sich auf die Aussagen vermeintlicher Fachleute, stutzen ihren Töchtern die Flügel, bremsten sie aus, erklärten, dass ihre Ziele unerreichbar seien und bezeichneten sie als Wunschträume. Sie ließen lieber Potentiale ungenutzt, als das Risiko des Scheiterns einzugehen. Wenn ihre Töchter scheiterten, war das kein gewöhnliches Scheitern, das vorkommen kann und darf, sondern ein Anzeichen für das UTS und damit krankhaft.

Bin ich geistig retardiert?

Ich hatte große Angst davor, dass meine Schwächen Symptome für eine geistige Retardierung seien. Ich habe die geistige Retardierung nie als absoluten Wert gesehen, wie bspw. eine IQ-Zahl, sondern als relativen Wert, also bspw. im Vergleich zu meiner Schwester.

Ich musste 50 Jahre alt werden, um sagen zu können: „Ich bin intelligent“, ohne mir wie eine Hochstaplerin vorzukommen.

Kleinwuchs im Beruf

Der Kleinwuchs (ich bin knapp 147 cm groß) macht die Sache auch nicht einfacher. Als ich 40 Jahre alt war, stellte ich mich eines Tages vor den Spiegel und stellte zufrieden fest: „Für unter 20 hält dich jetzt keiner mehr!“ Über das herablassende Du könnte ich ein Epos mit vielen, vielen Strophen schreiben!

Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie schwierig es im Berufsleben sein kann, wenn eine ständig für jünger gehalten wird und aufgrund ihres Kleinwuchses immer auffällt.

Das UTS – zentrales Merkmal oder eines unter vielen?

Das UTS ist ein Merkmal, das viele Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, gefärbt hat, aber es prädestiniert mich nicht für ein in jeder Hinsicht reduziertes Leben: weniger Potentiale, weniger Intelligenz, weniger Kreativität, ein geringer ausgebildeter Sinn für Ästhetik, weniger Freund*innen, weniger Erfüllung im Beruf, keine Partnerschaft… und was es an Schönem und Reichen auf der Welt mehr gibt.

Geschenke!

  • Ohne das UTS hätte ich niemals all die wunderbaren Menschen der Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland e.V. kennengelernt, die ich auch gerne als meine Wahlfamilie bezeichne
  • Ich bin viel kritischer und reflektierter, wenn es um das geht, was viele Menschen als Normalität bezeichnen
  • Ich bin offen und sensibel gegen andere marginalisierte Gruppen
  • Ich höre nicht nur was, sondern wie etwas erzählt wird
  • Ich habe, wie die meisten von uns Frauen mit UTS einen gut entwickelten Sind für Humor
  • Ich lache gerne und viel und laut und feiere bis heute Lachorgien
  • Ohne das UTS wäre ich wäre niemals Märchenerzählerin geworden. Es wäre mir wie Paddy Ahern gegangen, der sich keine einzige Geschichte merken konnte, bis er selbst Unglaubliches erlebt hat.

Also, kurz und knackig:
Das UTS ist nichts für Feiglinge. Manche von uns haben gesundheitliche Probleme, andere bis heute große Schwierigkeiten mit ihren Familien, aber „eins kann mir keiner nehmen und das ist die pure Lust am Leben!“