Einleitung
Beim Scrollen auf meinem Smartphone blieb ich an einem Foto hängen: „Man ist nie zu klein, um großartig zu sein!“ stand darauf. Ein Satz, den viele motivierend finden – für mich ist er das Gegenteil. Vielleicht gilt er für Kindergartenkinder, bei denen „Kleinsein“ noch etwas Liebenswertes hat. Doch was, wenn man klein bleibt, auch als Erwachsene? Ich bin kleinwüchsig, knapp 1,50 Meter groß – und dieser Spruch ärgert mich. Denn er zeigt, wie sehr Sprache Größe mit Wert und Bedeutung verknüpft.
Informationen zum Kleinwuchs
✅ Als kleinwüchsig bezeichnet man einen Erwachsenen, dessen Körperlänge unter 15o cm ist.
✅ Es gibt ungefähr 450 Kleinwuchsformen, die vielfältige Ursachen haben können. Es gibt Normvarianten und pathologische Formen.
✅ Früher wurden Kleinwüchsige oft als Zwerge oder Liliputaner bezeichnet.
✅ Man unterscheidet zwischen proportioniertem und nicht proportioniertem Kleinwuchs, also mit einem von der Norm abweichenden Verhältnis zwischen Kopf, Rumpf, Armen und Beinen.
✅ Es gibt Normvarianten, wie den familiären und den konstitutionellen Kleinwuchs.
✅ Beim familiären Kleinwuchs ist es einfach: kleinwüchsige Eltern haben meistens kleinwüchsige Kinder.
✅ Bei Kindern mit konstitutionellen Kleinwuchs entwickelt sich die Knochenreife verzögert und die Pubertät beginnt später. Meistens erreichen diese Kinder, etwas zeitverzögert, die Normgröße.
✅ Manche Kleinwuchsformen sind genetisch bedingt, etwa durch Veränderungen im Erbgut, wie bspw. die Achondroplasie, die häufigste Form oder das Ullrich-Turner-Syndrom (UTS). Andere entstehen hormonell, wenn etwa das Wachstumshormon nicht ausreichend produziert wird. Seltener spielen Stoffwechsel- oder Knochenerkrankungen eine Rolle.
✅ Menschen mit Kleinwuchs erleben jedoch häufig, dass ihre Körpergröße zu Fehleinschätzungen führt:
Sie werden für jünger gehalten, unterschätzt oder nicht ernst genommen – sowohl im Berufsleben als auch im Alltag. Dieses ständige Korrigieren, Erklären und Sich-Behaupten kostet Kraft und prägt oft das Selbstbild.
✅ Den Welttag der Kleinwüchsigen gibt es seit 2010. Er ist am 25. Oktober.
✅ Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V. setzt sich seit 1988 für die Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe kleinwüchsiger Menschen und ihrer Familien ein.
✅ Die Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschlande e. V. klärt seit 1988 über das UTS auf, berät Mädchen und Frauen mit UTS und ihre Angehörigen und sorgt für Austausch untereinander.
Sind nur große Menschen großartig?
Es ist nicht selbstverständlich, kleine Menschen, gleich welchen Alters für großartig zu halten. Das ist großen Menschen vorbehalten. „Das war großer Mann! Der hatte ein großer Talent für die Politik!“, heißt es manchmal. Das hat nichts mit der Körpergröße zu tun, sondern mit dem, was dieser Mensch geleistet hat.
Gerade in der Diskussion um Kleinwuchs und Gesellschaft zeigt sich, wie stark Größe mit Wert verknüpft wird – sprachlich, kulturell und unbewusst.
Warum Sprache kleine Menschen klein macht
Großartig, großmächtig, großherzig, großmütig und großzügig, eine große Frau, ein großer Mann, ein großes Talent – das sind alles positive Begriffe!
„Du bist ja schon groß!“, heißt „Du bist ein Kind, das schon eine Menge kann und versteht, vielleicht mehr, als man dir auf den ersten Blick ansieht.“
Im Gegensatz dafür bedeutet: „Dafür bist noch zu klein!“ oft „Dafür bist du noch zu jung!“ Dieser Spruch zeigt ganz deutlich, wie stark Körpergröße und Alter in der Alltagssprache miteinander verknüpft sind.
Es gibt nur wenige „große“ Begriffe, für die das nicht gilt:
Großmäulig und großspurig sollte man nicht sein, auch nicht als großer Mann.
Nur selten ist etwas Kleines etwas ganz Besonderes, wie das Kleinod, das eine besondere Kostbarkeit ist.
Aber viele andere Begriffe mit „klein“ am Wortanfang sind eher negativ besetzt, denn wer möchte schon als kleinkariert, kleinlich, kleinmütig und kleingeistig gelten? Oder sich kleinkriegen lassen?
Wer möchte als Mensch angesehen werden, der aus jeder Kleinigkeit einen Popanz macht? Keiner hat Lust sich mit Kleinkram oder Kleinscheiß zu beschäfitgen und im ewigen klein-klein stecken zu bleiben, fast unsichtbar zu sein und für kleines Geld zu arbeiten.
Große Aufgaben sind zwar eine Herausforderung, aber viel lohnender: Sie bringen Sichtbarkeit mit sich und lohnen sich auch materiell.
Der kleine Mann auf der Straße kriegt oft nur eine kleine Rente.
Aber auch große Leute freuen sich, wenn sie das nötige Kleingeld haben oder nicht vergessen, das Kleingedruckte zu lesen.
Napoleon, Zwerge und andere Klischees über Kleinwuchs
Es gibt nichts Lächerlicheres als einen kleinwüchsigen Mann, der sich durchsetzen will: „Der leidet wohl am Napoleon-Syndrom!“ Eine kleinwüchsige Frau dagegen probt den Zwergenaufstand.
Passt nur auf, dass euch kleine Leute nicht mal einer zu Kleinholz macht! Vielleicht wäre das auch zu mühevolle Kleinarbeit?
In der Alltagssprache ist es vom Zwerg nicht weit bis zum Giftzwerg, einem Menschen mit gehässigem und boshaften Verhalten, der dadurch seine geringe Körpergröße wettmachen will. Merke: Lieber klein und gemein, als kleinmütig!
Aber warum muss ein kleinwüchsiger Mensch gemein und boshaft einen Kleinkrieg anzetteln? Warum kann er sich nicht anders durchsetzen?
Vielleicht hat er oder sie die Erfahrung gemacht, dass seine oder ihre Leistungen, seien sie groß oder klein, klein geredet werden, um ihnen Wichtigkeit und Bedeutung abzusprechen. Durch die Bewertung von Leistung können Menschen klein gehalten und groß gemacht werden.
Manchmal sagt einer: „Ich möchte ich vor Wut darüber alles kurz und klein schlagen!“
Dieser Satz hat richtig Wucht: Ich kann die vielen kleinen Stückchen auf dem Boden liegen sehen. Da finde ich kein Gegenstück mit „groß“, das stärker wäre. „Ich könnte vor Wut alles in große Stücke schlagen“, klingt seltsam. Das geht nicht.
Kleinkleckersdorf nennt man im Nordosten Deutschlands das, was im Bayerischen Raum Hintertupfingen heißt, also ein Dorf kurz vor Hinterwald. Daher kommen die Hinterwäldler, die fernab jeder Zivilisation wohnen. Wer möchte schon gerne aus Kleinkleckersdorf kommen?
Sprüche und Lieder in „klein“ und „groß“
„Die süßesten Früchte erreichen nur die großen Tiere.
Und weil wir beide klein sind und diese Früchte hoch sind
erreichen wir sie nie!“
Kennst du ein ähnliches Lied für große Menschen?
Kleinwüchsige müssen sich damit zufrieden geben, in Kleinkleckersdorf in einem kleinen Laden kleine Brötchen zu backen. Wem aber gehört die Bäckerei? Wahrscheinlich einem großen Geschäftsmann!
Wenig tröstend finde ich diesen Spruch:
„Die kleinen Leute hat der liebe Gott erschaffen,
die anderen sind nur große Laffen!“
Das erinnert doch sehr an das sprichwörtliche Pfeifen im Keller…
Kleine Leute im Märchen
Im Märchen gibt es selten kleinwüchsige Menschen. Die Kleinen Leute, wie sie oft genannt werden, sind keine Menschen, sondern ein eigenes Volk. In den Märchen der Brüder Grimm sind es meistens Zwerge oder kleine, graue Männchen oder Weiblein. In Franken gibt es noch die Holzfräulein, die auch Holz- oder Buschweiblein, Waldweibchen oder -fräulein, aber auch Moosfräulein oder -weiblein genannt werden. Sie sind kleiner als Menschen und diesen wohl gesonnen.
Kleinwuchs in Alltag und Beruf: Unsichtbar trotz Leistung
Zwerge und Holzfräulein sind kleiner als Menschen. Niemand erwartet von ihnen größer zu sein, als sie sind. Das stelle ich mir sehr erleichternd vor. Das ist bei uns kleinwüchsigen Menschen ganz anders. Da kann man doch was machen, entweder mit einer operativen Beinverlängerung oder Wachstumshormontherapie oder wenigstens mit High Heels! Wenn auf der körperlichen Ebene die Größe nicht verlängert werden kann, dann muss der/die Kleinwüchsige lernen bei Bedarf Charisma rauszuhauen, um wahrgenommen zu werden. Aber auch dann ist nicht gesagt, dass sie als die wahrgenommen werden, die sie sind.
Kleinwüchsige Menschen werden oft für jünger gehalten, für dümmer, für unerfahrener und für unbedeutender. Die große (normalwüchsige) Frau ist die Chefin, nicht die Kleine neben ihr. Das ist so anstrengend, bezogen auf die Lebensspanne, denn das hört mit der Jugend nicht auf. Mit 40 Jahren betrachtete ich mich zufrieden im Spiegel und stellte fest: „Für unter 20 Jahre gehst du nicht mehr durch! Endlich!“
Wie die Coaching-Sprache Größe glorifiziert
Ich kriege das kalte Kotzen, wenn ich auf Coaching-Webseiten lese: „Komm in deine wahre Größe!“ Schon wieder bin ich nicht gut, so wie ich bin, muss ich noch größer werden!
Das zeigt wieder: „Je größer, desto besser! Klein sein ist nicht gut, wird auch hier negativ bewertet.“
Natürlich weiß ich, dass sich jeder Mensch bei dieser einfachen, bildhaften Sprache etwas vorstellen kann. Nur, warum wird klein sein so negativ bewertet?
Wie wir über Größe neu denken sollten
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir Kleinwuchs neu betrachten – ohne Klischees, ohne Bewertungen.
Größe ist kein Maßstab für Bedeutung, sondern ein Spiegel unserer Werte. Und vielleicht liegt wahre Größe genau darin, klein, aber echt zu sein.

„Du bist, was du erzählst!“ Das ist meine Philosophie. Dazu gehören die Märchen und Geschichten, die du als Kind gehört und geliebt hast. Das sind auch die Geschichten über dich selbst, die Welt und das Leben. Mit meinen Märchen, Workshops und Blogartikeln will ich Frauen ermutigen, sich selbst zu ermächtigen und einen kritischen Blick auf die Narrative unserer Gesellschaft zu entwickeln. Wenn ich nicht gerade blogge oder Märchen erzähle, sitze ich mit einem Buch und meinen Katzen auf dem Sofa.
Dem kann ich nur zustimmen!!!
Diese Beurteilung, ich möchte sagen Verurteilung einer Person nach Länge, Breite, Masse, Kleidung ist besch… Lookism.
Leider hatten und haben wir eine wenig empathische Gesellschaft wo alles einer Leistungsnorm unterworfen wird.
Vielfalt stört da.
Es braucht auch Resilienz dem Druck und Normterror zu widerstehen.
Liebe Grüße von Lilo
Ja, dieser Lookism ist auch ein Teil davon und der Anpassungsdruck kann sich wie Terror anfühlen.
Hi Bettina, ein faszinierender Artikel inhaltlich wie sprachlich und jetzt denke ich die ganze Zeit darüber nach, was ich für meinen Artikel mitnehme…
Darüber warum mir meine „großen“ (ich sage lieber ambitionierten) Ziele oft madig gemacht werden („Übernimm dich nicht.“), weil hier Größe irgendwie auf einmal nicht mehr gut ist… Größe scheint nur gut zu sein, wenn du sie hast und nicht wenn man sie wie bei ambitionierten Zielen anstrebt, jedenfalls als weiblich gelesene Person, scheint das der Fall zu sein.
Das ist alles wundervoll komplex, danke für deinen Artikel und die Gedanken, die ich mir jetzt über große und kleine Ziele mache. LG Antonia
Hi Antonia,
vielen Dank für deinen Kommentar. Es ist ein interessanter Gedanke, dass Größe nur dann gut ist, wenn man sie schon hat und dass weiblich gelesenen Personen immer noch nicht zugestanden wird, ambitionierte Ziele zu erreichen und damit sichtbar zu werden. Damit schlüpft sie aus der Rolle der starken, aber unsichtbaren Frau im Hintergrund.
Liebe Grüße, Bettina
Liebe Bettina,
wie gekonnt du die Sprache eingesetzt hast, um auf dein Thema aufmerksam zu machen, klasse!
Das Kleine ist unüberschaubar groß bei dir, einfach, weil du es so einzigartig klar und präzise benennst.
SEHR GUT, danke für deinen Wachrüttler, auch in meinem eigenen Sprachgebrauch mehr Augenmerk darauf zu lenken.
Herzliche Grüße
Gabi
Liebe Gabi,
vielen Dank für deinen Kommentar!
Herzliche Grüße
Bettina