Da saß ich nun in meiner Ausbildung zur Märchenerzählerin und brannte darauf, öffentlich aufzutreten. Das hatte ich mir ganz einfach vorgestellt. Schließlich bin ich nicht auf den Mund gefallen und habe immer gerne Referate gehalten.

Dann kam der Moment, als ich zum ersten Mal auf dem Stuhl der Erzählerin saß und ein Märchen vor den anderen Frauen im Kurs und den Ausbilderinnen des Märchenzentrums DornRosen vortragen sollte. War das aufregend! Ich redete wie ein Wasserfall, um möglichst schnell fertig zu sein. Außerdem ging mir ständig die Luft aus und das obwohl ich Flöte und Jagdhorn gespielt hatte!

So schwer hatte ich mir das Erzählen vor Publikum nicht vorgestellt. Das wollte ich ganz schnell ändern.

Vor anderen Erzähler*innen zu erzählen ist sehr schwer, denn sie durchschauen jeden Trick, kennen meistens den Märchentext und hören jeden Fehler bei der Betonung. Ganz schlimm wird es, wenn dir die Luft ausgeht und du an der falschen Stelle atmest. Deswegen hieß der Stuhl der Erzählerin bzw. des Erzählers im Märchenzentrum DornRosen auch „der heiße Stuhl“.

Das Feedback war übrigens sehr sanft und liebevoll. Es begann immer mit: „Das war gut“ und endete mit: „Das hätte ich mir anders gewünscht.“ Dann kamen die Beobachtungen der anderen, nicht nur die der Ausbilderinnen.

Meine Ausbildung zur Märchenerzählerin bestand aus 7 Wochenenden und 3 Wochen. Jeder Tag begann mit einem Morgenkreis, der von den Teilnehmenden selbst gestaltet wurde. Der Morgenkreis bestand für gewöhnlich aus einem Gedicht, einem, Lied, einem Tanz und natürlich einem Märchen. Letzteres war die Gelegenheit, das Erzählen zu üben. Diese Gelegenheit nützte ich, so oft es ging, um das Erzählen vor Publikum zu üben und dadurch die Angst zu überwinden.

Mit dem Abschluss der Ausbildung hatte ich auch meine Angst vor dem Auftreten überwunden, Lampenfieber habe ich trotzdem. „Lampenfieber ist Respekt vor dem Publikum“, sagt Reinhard Mey.

Meistens kann ich damit gut umgehen, aber es gibt immer noch aufregende Situationen. Dann hilft es mir, mich zu erden und die wunderbaren Übungen von Dr. med. Claudia Croos-Müller zu machen. Durch diese Körperübungen kann ich meinen so Geist beeinflussen, dass aus der Leuchtstoffröhrengrippe wieder harmloses Lampenfieber wird.

Wenn ich durch das Lampenfieber so richtig wach und aufmerksam bin, geschieht etwas Wunderbares: Ich erlebe, dass das Erzählen eine Kunst ist, die erst durch den Dialog mit dem Publikum entsteht. Manchmal ist es richtig magisch und das Märchen fließt fast mühelos über meine Lippen, weil das Publikum so aufmerksam zuhört.