Dieses Märchen werde ich bei den Stadt(ver)führungen in Nürnberg erzählen. Es erinnert an das Märchen Frau Holle, das die Brüder Grimm erzählt haben. Der Anfang ist fast derselbe, aber die Mädchen treffen nicht auf eine strenge, aber gerechte Frau, sondern auf eine Hexe, die im siebten und verbotenen Zimmer einen Goldschatz hütet. Natürlich schauen beide Mädchen hinein. Der Hahn, ein Verbündeter der Hexe, kräht, sobald er die Mädchen, die in dem goldenen Zimmer selbst ganz golden geworden sind, davonlaufen sieht. Und wie auch bei Frau Holle gehen die Mädchen nacheinander, nicht miteinander.

Die Stieftochter kann der Hexe entkommen, weil sie auf dem Hinweg Verbündete (einen Apfelbaum, einen Hund und einen Ofen) gewonnen hat, und deren Bitten erfüllt hat. Nun helfen sie dem Mädchen bei der Flucht. 

Ihre Stiefschwester hat den dreien nicht geholfen. Sie wird von ihnen aufgehalten und an die Hexe verraten. Die Hexe holt sie auf der Flucht ein. Sie wird von der Hexe so schauderhaft mit ihren langen Fingernägeln zerkratzt, dass sie sich ihr Leben lang im Keller verstecken muss. 

Die Heldin dagegen wird die Braut eines jungen Königs und feiert mit ihm eine Hochzeit, die acht Tage lang dauert.

 

Hexenhaus im Wald

Das Gewinnen von Verbündeten erinnert mich an russische Märchen von der „Baba Jaga Knochenbein“, in dem die Heldin die Verbündeten der Baba Jaga (Kater, Hund, Birke und zwei Türflügel) viel aufmerksamer und liebevoller behandelt als Baba Jaga selbst, so dass sich die Helfer der Baba Jaga mit dem Mädchen verbünden und ihr zur Flucht verhelfen.

In diesem Märchen ist es nicht so ganz klar: Sind Apfelbaum, Hund und Ofen eigentlich Verbündete der Hexe, die bei dem freundlichen Mädchen eine Ausnahme machen oder wenden sie sich gegen die leibliche Tochter der Frau, weil diese sie unfreundlich behandelt hat?

Was denkst du?

 

Die beiden Mädchen und die Hexe

Eine Frau hatte zwei Töchter. Die ältere war ihre eigene Tochter und die war sehr hässlich, die jüngere ihre Stieftochter und die war sehr schön. Das ärgerte die böse Mutter, und sie gab ihrer Stieftochter immer nur zerlumpte Kleider und ließ sie daheim in der Asche sitzen. Ihrer eigenen Tochter aber kaufte sie schöne Kleider und nahm sie überall mit.

Zuletzt schickte sie ihre Stieftochter ganz aus dem Haus: „Du bist jetzt groß und kannst dich ernähren! Geh, wo­hin dich deine Augen führen!“ Da machte sich das arme Mädchen auf und wanderte fort. Als sie ein Stück Weg gegangen war, kam sie an einen Apfelbaum, der sprach zu ihr: „Willst du mich nicht ein wenig von den Dornen reinigen?“ – „Warum nicht!“ Das Mädchen machte sich gleich an die Arbeit und reinigte den Baum. Sie ging wieder ein Stück weiter.

Da sah sie einen lahmen Hund, der schleppte sich mühselig auf der Erde fort. „Willst du mir nicht meinen Fuß verbinden?“ – „Warum nicht?“ Das Mädchen ging gleich daran. Als sie noch ein Stück weiter kam, sah sie einen Backofen, in welchem das Feuer brannte: „Willst du nicht das Eisen vorschieben?“ – „Warum nicht?“ Das Mädchen tat es sogleich. Nun kam sie zuletzt an ein Häuschen. Drin wohnte eine alte Hexe. Sie klopfte an: „Willst du mich in deinen Dienst nehmen?“ Die Hexe war froh, denn sie brauchte gerade ein Dienstmädchen. Sie übergab ihr alle Schlüssel: „Du darfst in alle Zimmer gehen, nur nicht in das siebente.“

Die Neugierde ließ dem Mädchen keine Ruhe. Als die Hexe fort war, ergriff sie die Gelegenheit und trat auch in das verbotene Zimmer. Da war alles aus purem Gold, und das Mädchen wurde selbst auf einmal ganz golden. Nun bekam sie Angst. Sie schloss schnell die Tür, lief fort und wollte nach Hause.

Aber über der Tür stand ein Hahn, der fing gleich an zu krähen, wie er das Mädchen laufen sah. Die Hexe hörte den Hahn schreien, kam gleich herbei und eilte dem Mädchen nach. Doch konnte sie den Weg schlecht sehen. Denn vor ihr war finstre Nacht, vor dem Mädchen lichter Tag. Als sie zu dem Ofen kam, rief der ihr Mut zu: „Laufe nur fort, die Garstige erreicht dich nicht!“ Da kam die Hexe zum Ofen und fragte ihn: „Ist hier ein Mädchen vorbei gelaufen?“ Aber der Ofen wollte nichts von ihr wissen. Auch der Hund rief dem Mädchen zu: „Laufe nur fort, die Garstige erreicht dich nicht!“ Die Hexe kam keuchend heran und fragte den Hund: „Ist hier ein Mädchen vorbei gelaufen?“ – „Nein, ich habe keines gesehen!“ Ebenso machte es der Apfelbaum: „Laufe nur schnell! Die Garstige erreicht dich nicht!“ Die Hexe fragte auch ihn: „Ist hier ein Mädchen vorbei gelaufen?“ Aber auch er hatte nichts gesehen. Weiter hinaus hatte die Hexe keine Macht, und sie musste mit langer Nase umkehren.

Als aber das arme Mädchen zu Hause anlangte, sang die Hausschwalbe vom Dach:

„Litum, titum, tärchen,
Es sitzt er goldich Frächen .
Unterm Fenster und lacht!“

Da eilte die Stiefmutter hinaus, sah das Goldmädchen und verwunderte sich sehr. Sie führte sie hinein und tat ganz freundlich. Aber die Stiefschwester wurde ganz grün vor Neid: „Ich will auch hingehen und gewiss noch schöner heimkehren als der Aschenput­tel!“

Sie ging denselben Weg. Als sie zum Apfelbaum kam, bat er sie auch: „Willst du mich nicht von den Dornen reinigen?“ Aber sie antwortete: „Das fällt mir gerade ein, dass ich mir meine Hände zersteche!“ Sie ging weiter.

Ebenso machte sie es beim lahmen Hund. „Willst du mir nicht meinen lahmen Fuß verbinden?“ – „Nun, das fehlte noch. Glaubst du, ich bin eine gemeine Magd?“

Sie ging weiter. Als sie zum Backofen kam, loderte das Feuer stark heraus. „Willst du nicht das Eisen vorschieben?“ – „Unverschämter! Das ist kein Geschäft für mich!“ Sie ging weiter und kam bald zur Wohnung der Hexe und nahm bei ihr den Dienst auf.

Die Hexe ging am frühen Morgen aus: „In alle Zimmer darfst du gehen. Nur in das siebente Zimmer wage es nicht zu gehen, sonst wehe dir!“

„Ja, ja.“Kaum war die Hexe jedoch fort, so trat das Mädchen ohne Weiteres in das verbotene Zimmer und wurde auf einmal auch ganz golden. Alsbald ergriff sie die Flucht. Der Hahn über der Tür krähte wieder, und die Hexe war bald zurück und sah, was es gab. Das Mädchen lief, was sie nur konnte, allein es konnte schwer fortkommen. Denn vor ihr war finstere Nacht, hinter ihr lichter Tag. Als sie beim Ofen vorbei lief, versengte ihr die Flamme, die aus dem Ofen heraus schlug, das Kleid, und als die Hexe fragte: „Ist ein Mädchen hier vorbei gelaufen?“, rief der Ofen: „Eile nur, gleich hast du sie!“ Als sie zu dem Hund kam, bellte der und biss sie in den Fuß, dass sie nur mit Mühe und Not weiter kam. Wie die Hexe fragte: „Ist hier ein Mädchen vorbei gelaufen?“, rief er: „Nur schnell, gleich hast du sie!“ Endlich kam sie zum Apfelbaum, der hatte alle seine Domen in den Weg geschüttelt. Darin verwickelte sie sich so, dass sie nicht von der Stelle konnte. Sogleich saß ihr die Hexe im Genick: „Warte, du Diebsgesicht, mein Gold sollst du nicht heim tragen!“ und da fing sie gleich an, das Mädchen mit ihren langen Nägeln zu kratzen und kratzte ihr alles Gold vom Leib, dass nicht ein Staubpünktchen mehr an ihr blieb, machte ihr blutige Furchen am ganzen Leib und ließ sie dann laufen.

Als sie zu Hause ankam, sang die Hausschwalbe vom Dach:

„Litum, titum, tärchen,
Es sitzt er blutigs Frächen
Unterm Fenster und schreit.“

Ihre Mutter lief schnell hinaus und erkannte sogleich ihre Tochter. Sie führte sie hinein und versteckte sie im Keller, dass kein Mensch sie sehen sollte, und da blieb sie ihr Leben lang.

Als aber der junge König von dem schönen Goldmädchen hörte, kam er in einer Kutsche mit vier weißen Hengsten herbei gefahren, führte das Mädchen als seine liebe Braut in seine Burg und hielt eine glänzende Hochzeit, die acht Tage dauerte.

Deutschland

Josef Haltrich, Version Bettina von Hanffstengel