Ich erzähle gerne Märchen, in denen Mädchen und Frauen die Heldinnen sind. Das Ergebnis meiner Suche in der Märchensammlung der Brüder Grimm war ein wenig dürftig. Deshalb habe ich mich anderswo umgeschaut und bin bei den First Nations in Nordamerika fündig geworden. Hier habe ich Mädchen gefunden, die entschlossen und mutig ihre Weg gehen.

Eine meiner liebsten Heldinnen, die mich schon jahrelang begleitet, ist das Mädchen „Gebogener Pfeil“.

Möwen fliegen vor der weißen Gischt eines Wasserfalls

Das Mädchen Gebogener Pfeil lebt in einem Dorf am Niagara Fluss. Die Menschen im Dorf werden krank und sterben an einer geheimnisvollen Krankheit, die kein Mensch heilen kann. Der alte Häuptling, der den bezeichnenden Namen „Ohne Herz“ trägt und der schon drei Frauen an die Krankheit verloren hat, behauptet nun: „Wenn ich noch einmal heirate, wird das die bösen Geister besiegen, die die Krankheit über unser Dorf gebracht haben. Ich will Gebogener Pfeil heiraten.“

Aber Gebogener Pfeil ordnet nicht sich und ihr Lebensglück den Wünschen des Häuptlings unter, sondern flieht in die Fremde, indem sie versucht, mit dem Kanu über den Niagara-Fluss überzusetzen Aber ihr Boot kentert und sie wird in den Wasserfall hineingezogen. Sie gelangt in eine Höhle, die unter dem Wasserfall liegt. Dort begegnet sie dem Wassergeist Wolken-und-Regen, der sie freundlich empfängt. Er erklärt ihr:

Das Wasser in eurem Dorf ist vergiftet. Häuptling Ohne Herz hätte auf die hören sollen, die sagten, ihr solltet stromaufwärts ziehen und ein neues Dorf errichten. Bei den Sümp­fen, unter der Quelle, aus der ihr das Wasser schöpft, lebt eine Schlange, eine giftige Schlange. Sie schickt ihr Gift mit dem Wasser zu euch. Die Schlange lässt sich nicht vertreiben, aber die Krankheit lässt sich heilen. Es gibt Kräuter, die sie lindern. Ich kenne sie und weiß, wie man sie anwendet.“

Gebogener Pfeil freut sich, die Ursache der Krankheit zu kennen und zu hören, dass sie geheilt werden kann, weil sie den Menschen in ihrem Dorf helfen will. 

Gebogener Pfeil bleibt drei Monate in der Grotte und lernt alle Heilkräuter kennen und unterscheiden. Als Ohne Herz gestorben ist, kehrt sie in ihr Dorf zurück, wo sie freundlich aufgenommen wird. Sie erzählt, was sie erlebt und erfahren hat, aber man glaubt ihr nicht, dass es notwendig ist, das das Dorf zu verlassen und flussaufwärts neu zu siedeln.

Gebogener Pfeil holt mit ihrer Mutter Wasser aus einer entfernten Quelle, weit flussaufwärts. Andere Frauen schließen sich ihnen an. Deren Familien werden nicht krank, dafür aber der Sohn und die Tochter des Häuptlings, die Gebogener Pfeil mit den Kräutern heilen kann, die ihr Wolken-und-Regen gezeigt hat. Da erkennen die Menschen, dass Gebogener Pfeil die Wahrheit gesagt hat und der Häuptling und der Rat der Ältesten beschließen das Dorf zu verlassen und flussaufwärts neu zu siedeln.

Gebogener Pfeil gibt ihr Wissen an die Frauen ihres Volkes weiter und alle leben von nun an glück­lich und in Eintracht miteinander.

In der Quellenangabe fehlt leider die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Sprachfamilie

Das Märchen „Gebogener Pfeil“ ist aus: Gabriele Dieks: „Sternenmädchen – Indianerinnen-Geschichten“,  Elefanten Press Verlag, 1993

Mir gefällt dieses mutige Mädchen, das ihrem Herzen folgt, sich selbst treu bleibt und auch den Menschen im ihrem Dorf. Sie weigert sich, sich für das scheinbare Wohlergehen des Dorfes aufzuopfern und ist bereit da zu helfen, wo es sinnvoll ist. Sie handelt frei von Rollenvorstellungen und lässt sie auf ihrer Flucht vor der Heirat mit dem Häuptling Ohne Herz hinter sich. Unbeirrt, selbstsicher und konsequent verfolgt sie ihre Ziele, die nicht nur ihr selbst, sondern auch ihrem Dorf dienen.

Ich selbst habe oft geglaubt, dass ich egoistisch handle, wenn ich meinem Herzen folge. Dieses Märchen zeigt, dass es nicht stimmt