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„Lasst die Tiere in Frieden, ich leid’s nicht, dass ihr sie stört.“
Wie ein heller Glockenklang durchbrechen diese Worte die raue Szenerie. Inmitten der Waldlandschaft, wo zwei burschikose Brüder lachend einen Ameisenhaufen aufwühlen wollen, erhebt der Jüngste seine Stimme. Er ist bekannt als „der Dummling“ – ein Name, der schwer auf seinen schmalen Schultern lastet.
In der Welt der überlieferten Märchen scheint seine Rolle vorbestimmt: Er ist der Einfältige, der Naive, über den man lacht. Doch wie so oft in der Märchenwelt ist nichts, wie es zunächst erscheint.
Was sich hinter diesem vermeintlich törichten Verhalten verbirgt, wird das Schicksal eines ganzen Königreichs verändern…
Was uns die Brüder Grimm mit diesem besonderen Helden zeigen, erscheint in unserer heutigen Zeit erstaunlich aktuell: ein Porträt hochsensibler Wesensart, lange bevor der Begriff überhaupt existierte. Bettina von Hanfstengel schreibt In meiner Arbeit als Märchenerzählerin darüber, wie sie immer wieder solchen verborgenen Schätzen begegnet, die in alten Geschichten auf ihre Entdeckung warten.
Welcher Schatz versteckt sich in „Die Bienenkönigin“?
Die verkannte Gabe
Die Figur des „Dummlings“ begegnet uns in zahlreichen Volksmärchen. Während andere Helden durch Stärke, List oder Klugheit glänzen, besticht er durch eine andere, leisere Qualität: seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit.
Beobachten wir ihn genauer in der „Bienenkönigin“:
Er hört die Angst der Ameisen, während seine Brüder nur Krabbeltiere sehen. Er spürt die Lebenslust der Enten, während die anderen nur an ein schmackhaftes Mahl denken. Er achtet die Gemeinschaft der Bienen, während seine Geschwister nur den Honig begehren.
Wilhelm Lüthi, einer der bedeutendsten Märchenforscher des 20. Jahrhunderts, nennt diesen Heldentyp den „unscheinbaren Auserwählten“. In der Märchenwelt folgt er oft demselben Muster: Von allen verspottet, zeigt er sich als einziger würdig, das Königreich zu retten oder die verzauberte Prinzessin zu erlösen.
Was seine vermeintliche Torheit ausmacht, ist in Wahrheit eine besondere Gabe – eine tiefe Verbundenheit mit allem Lebendigen, eine Sensibilität, die andere nicht nachvollziehen können.
Doch was geschieht, wenn diese Gabe auf die härteste Probe gestellt wird? Wenn selbst die sensibelsten Sinne an ihre Grenzen stoßen?
Was die Ameisen flüstern
„Du hörst das Gras wachsen? Lächerlich!“
„Du spürst, wenn jemand traurig ist, obwohl er lächelt? Das bildest du dir ein!“
„Dir ist das Licht zu hell und der Lärm zu laut? Stell dich nicht so an!“
Diese Sätze kennen viele (hoch-)sensible Menschen nur zu gut. Doch was oft als Schwäche oder Überempfindlichkeit abgetan wird, erhält im Märchen einen ganz anderen Stellenwert.
Während die Welt oft von durchsetzungsstarken Charakteren mit lauter Stimme dominiert wird, existiert in der Märchenwelt ein anderes Wertesystem. Hier kann die zarte Wahrnehmungsfähigkeit zum entscheidenden Vorteil werden.
Die Tiere, die der junge Held verschont – Ameisen, Enten und Bienen – werden später zu seinen wichtigsten Verbündeten. Die Folgen seiner Handlungen aus Empathie, Mitgefühl und Achtsamkeit kehren zu ihm zurück, nicht als blumiges Versprechen, sondern in konkreter Hilfe bei scheinbar unlösbaren Aufgaben.
Es ist ein zeitloses Bild für eine Wahrheit, die in unserer hektischen Welt häufig vergessen wird: Wahre Verbindung entsteht dort, wo wir anderen Wesen mit Respekt und Achtsamkeit begegnen.
Und jetzt kommt die eindringliche Warnung, was mit jenen geschieht, die diesen Respekt verweigern? Die Brüder unseres Helden stehen bald vor einer erschütternden Entdeckung…
Wenn Märchen uns den Spiegel vorhalten
Die russische Volkskundlerin Natalja Nowikowa spricht von Märchenhelden als „Spiegeln der Volksseele“. In jedem kulturellen Kontext finden wir Charaktere, die bestimmte menschliche Eigenschaften und Erfahrungen widerspiegeln.
Der sensible Held erscheint nicht nur in „Die Bienenkönigin“. Wir begegnen ihm als „Aschenputtel“, das mit den Tauben spricht, als „Hans im Glück“, der in einfachen Dingen Freude findet, oder als „Das Mädchen ohne Hände“, das trotz furchtbarer Verstümmelung seine innere Reinheit bewahrt.
Ähnliche Figuren finden wir übrigens auch in Märchen anderer Kulturen. In der Geschichte von „Sie-die-allein-ist“, die Bettina gerne erzählt, geht es ebenfalls um die tiefe Verbindung zwischen Menschen und der Natur. Denn die Heldin muss erst lernen, auf die leisen Stimmen der Natur zu hören, bevor sie ihr Volk retten kann.
Dass es überall auf der Welt hoch sensible Heldenfiguren gibt, legt nahe, dass solche Charaktere eine universelle menschliche Erfahrung verkörpern – jenseits kultureller Grenzen.
Doch zurück zu unserem „Dummling“ im verzauberten Schloss. Seine letzte Prüfung ist eine schier unlösbare Aufgabe – eine, die auch seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit auf die äußerste Probe stellt…
Das unmögliche Rätsel
Der dramatische Höhepunkt in „Die Bienenkönigin“ ist die dritte Aufgabe: Aus drei scheinbar identischen Königstöchtern muss der junge Held die eine, besondere erkennen. Keine leichte Aufgabe, wenn nur das Auge urteilt.
Hier versagt jede rationale Methode. Kein Messgerät, keine Checkliste kann helfen. Der Verstand muss vor dieser Unmöglichkeit kapitulieren.
Man stelle sich vor: Drei junge Frauen, wie aus demselben Gesicht geschnitten, jede Wimper, jede Haarsträhne identisch. Der Dummling steht davor, sein Herz klopft. Ein falscher Entscheid, und alles wäre verloren – die Prinzessin, das Königreich, womöglich sein Leben.
In diesem Moment der tiefsten Ratlosigkeit geschieht etwas Unerwartetes…
Es ist die Bienenkönigin, die wie ein goldener Lichtpunkt herein schwebt. Mit ihren feinen Sensoren erkennt sie den Unterschied, den niemand sehen kann: Die jüngste Königstochter hat vom Honig gekostet.
Dieses Bild aus dem Märchen entspricht erstaunlich genau dem, was moderne Psychologie über Hochsensibilität lehrt: Es geht um eine besondere Art der Wahrnehmung, eine verfeinerte Verarbeitung von Sinneseindrücken, die subtile Unterschiede erfassen kann, die anderen völlig entgehen.
Der Weg zur tieferen Erkenntnis, von dem Bettina spricht, beginnt oft mit kleinen Schritten, wie im georgischen Märchen vom Tschongurispieler, das ihr besonders am Herzen liegt. Wie der sensible Held im Märchen müssen wir manchmal ungewöhnliche Wege gehen, um zu den verborgenen Schätzen zu gelangen.
Und dann? Was, wenn der „einfältige“ Held tatsächlich triumphiert? Wenn der vermeintliche Dummling den Fluch bricht?
Wenn das Leben zurückkehrt
Am Ende des Märchens geschieht etwas Wundersames: „Da war der Zauber vorbei, alles war aus dem Schlaf erlöst, und wer von Stein war, erhielt seine menschliche Gestalt wieder.“
Die versteinerten Menschen – ein eindrucksvolles Bild für Verhärtung, Erstarrung, Gefühllosigkeit – werden wieder lebendig. Und im Zentrum dieses Wandels steht der vermeintliche „Dummling“, der sensible Held, der durch seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit das scheinbar Unmögliche vollbracht hat.
Die Märchenerzählerin spürt in solchen Momenten den tiefen Zauber dieser alten Geschichten. Sie sprechen eine Sprache, die direkt zum Herzen findet, eine Sprache der Empfindsamkeit, die in unserer pragmatischen Welt oft überhört wird.
Was wäre, wenn wir diese Qualität nicht als Makel, sondern als kostbares Geschenk betrachten würden? Wenn wir die hochsensiblen „Dummlinge“ unter uns nicht belächeln, sondern ihnen zuhören würden?
Vielleicht würden wir entdecken, dass sie etwas wahrnehmen können, was unser aller Leben bereichert. Dass ihre scheinbare Schwäche in Wahrheit eine Stärke ist, die wir dringender brauchen denn je in einer Welt, die manchmal gefährlich nah an der Versteinerung wandelt.
Wie in vielen Märchen ist auch in dieser Geschichte eine zeitlose Botschaft verborgen, die durch die Jahrhunderte zu uns spricht: Die Welt braucht Menschen mit feinen Antennen, mit offenem Herzen, mit dem Mut, anders zu sein.
Was könnten wir erreichen, wenn wir diese vergessene Weisheit tatsächlich wieder in unser Leben integrieren würden? Die Antwort darauf… liegt vielleicht in deinem nächsten Blick auf das kleine Leben direkt vor dir: eine Ameise, eine Ente, eine Biene…
Gastbeitrag von Götz Uwe Kreß, Gestalttherapeut und Entwickler der „Heldenmethode“, mit der sensible und hochsensible Menschen mehr Erfolg und Erfüllung in ihr Leben bringen können. Finde mehr über dich und deine besonderen, sensiblen Fähigkeiten heraus und mach den Test zu Selbsterkenntnis auf SensibleHelden.de
Lieber Uwe, vielen Dank für deinen Kommentar! Das Faszinierende an Nürnberg ist, dass Nürnberg eine märchenhafte Altstadt hat und gleichzeitig…
Sehr ansprechend und motivierend. Das würde mir auch gut gefallen, leider bisschen weit. Aber ich behalte es mal auf dem…
Wunderbar, dass es Dich und Deine Arbeit gibt. Märchenerzählen versus digitaler Overload. Mach weiter so!
Liebe Bettina, danke, dass du Frauenmärchen lebendig erhältst und weitergibst! Als ich jünger war, habe ich eine Zeitlang auch solche…
Das gefällt mir; ein sehr fundierter Artikel, er erklärt gut wozu (d)ein Märchentisch gut ist und was die Gegenstände bedeuten.…
Super Schön geschrieben Danke zorica Märchenerzählerin
Märchentisch kannte ich noch gar nicht. Die Idee ist so simpel und wunderschön. Pannesamt kostet ja nicht die Welt und…